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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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eventuell vorhandenen Bandaufnahmen zu ziehen. Von meinem Großvater, Martin Lukasser, existierte leider nicht ein einziger konservierter Ton; auch nicht von meinem Vater aus der Zeit, als er auf der Contragitarre Schrammelmusik gespielt hatte. Sarah Jane war sehr angetan von meinem Vorschlag, fiebrig war sie und bemüht, ihre Begeisterung zu zügeln, damit ich nicht merkte, für was für einen großen Fisch sie mich hielt, und womöglich ein höheres Honorar verlangte. Am Freitag, dem 8. September 1983, mittags um eins, landeten wir in Wien Schwechat.
    Im Hotel am Schubertring waren zwei Einzelzimmer für uns reserviert. Worüber Maybelle und ich uns wunderten, denn Sarah Jane, die unsere Reise organisiert hatte, hätte blind, taub und dumm sein müssen, um nicht mitzubekommen, daß Maybelle und ich mehr als nur ein Arbeitsduo waren. Ob wir zwei Zimmer mit Verbindungstür wünschten, fragte der Herr an der Rezeption; er war nicht blind und nicht taub und nicht dumm. Und ein Rassist war er auch nicht, nehme ich an; und ich dachte, Sarah Jane ist ebenfalls nicht blind, nicht taub und nicht dumm, sie setzte lediglich bei allem, was sie über Österreich wußte, voraus, daß man hier einen weißen Mann mit einer schwarzen Frau nicht gern in einem Zimmer sähe.
    Als ich den Wiener Akzent des Empfangschefs hörte und selbst, ohne es gleich bewußt wahrzunehmen, in meinen alten Penzinger Dialekt verfiel, hob sich in mir ein Strudel von Empfindungen nach oben, in dem Euphorie und Wehmut durcheinanderwirbelten: die Freude, endlich wieder zu Hause zu sein, und zugleich ein Gefühl der Trostlosigkeit, tatsächlich nie wieder hierher zurückkehren zu können; nicht weil ich es nicht gewollt hätte, sondern infolge existentieller Widrigkeiten – zum Beispiel der Zeit, die mich unüberbrückbar von dem trennte, der ich in dieser Stadt bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gewesen war – unter anderem ein Mensch, dessen Vater sich noch nicht das Leben genommen, dessen Frau sich noch nicht von ihm getrennt hatte und dessen Sohn noch nicht von ihm ferngehalten wurde.
    Einerseits hätte ich am liebsten nur schnell unser Gepäck abgestellt und wäre gleich hinaus in den Wiener Spätsommer gelaufen und hätte Maybelle meine Stadt gezeigt, die erfüllt war von den Gerüchen des Wienerwalds, die durch das Wiental strichen und sich mit den Gewürzen vom Naschmarkt und den Autoabgasen mischten und sich an die Kleider hefteten, so daß wir noch nach drei Wochen in Brooklyn nach dieser Stadt duften würden; andererseits sehnte ich mich danach, Maybelles Körper zu spüren, Stores und Vorhänge vorzuziehen und bis zur Dunkelheit mit ihr im Bett zu bleiben und mich von ihrer unsentimentalen Lust wieder in die Nüchternheit eines erwachsenen Menschen hinüberschubsen zu lassen.
    Maybelle sagte: »Ich schlage dir folgendes vor, Luke: Solange diese Reise dauert, gehören wir beide zusammen wie Mann und Frau: Wenn jemand grob zu dir ist, werde ich ihn zur Rede stellen, und wenn dich jemand angreift, werde ich dich verteidigen, und du machst es umgekehrt bei mir auch so. Aber wenn wir wieder in New York City sind, gehen wir beide wieder unserer Wege. Du brauchst mich nicht mehr, du kannst deine Geschichten ebensogut mit jemand anderem übersetzen und durchgehen. Die McKinnons können das viel besser als ich. Es ist so, ich weiß das. Ich will mich nicht kleinmachen, versteh das nicht falsch, Luke. Es ist nicht meine Art, mich kleinzumachen, das war es nie. Ich glaube nur, daß es zu Ende geht mit uns. Du willst es so, und ich will es auch so.«
    Die Jugoslawienreise, auf eine gute Woche geplant, dauerte gerade einen halben Tag. In dem verabredeten Café in Ljubljana erwartete uns ein junger Mann, Student, wie er sagte, der überreichte uns gegen die vereinbarte Summe eine große Pappschachtel mit Tonbändern, beiliegend ein mit Unterschrift und Stempel versehenes Blatt einer Behörde, damit wir beim Grenzübertritt keine Probleme bekämen. Frau Omerzel-Terlep sei leider verhindert, und er selbst habe leider keine Zeit; und weg war er. Es waren mehr Bänder, als wir erwartet hatten, auf jeden Fall genug, um vor Sarah Jane darum herum eine Geschichte zu bauen – wenn das überhaupt nötig sein würde. In Wien im Hotel am Schubertring hatten wir obendrein einen Stapel Schallplatten mit Schrammelmusik deponiert und drei Plastiktüten voll mit Tonbändern, die uns einer der Verkäufer beim Doblinger über unübliche Kanäle und für kein Geld besorgt

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