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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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hatte, weil es – wie er sagte – eine große Ehre für ihn sei, Mr. Alan Lomax zu Diensten zu sein; weil er sich – wie ich vermutete – in Mrs. Maybelle Houston verknallt hatte. Nach vier Tagen war unsere Mission eigentlich beendet und sehr erfolgreich dazu – halt so, wie man es sich im Büro des ACE von großen Fischen erwartete. Wir beschlossen, mit unserem gemieteten Toyota die restlichen Tage in der Gegend herumzufahren – nach Triest, Venedig, Verona und ein Stück weit hinein in den italienischen Stiefel.
    In Florenz spazierten wir auf der berühmten Ponte Vecchio über den Arno und stiegen zum Piazzale Michelangelo hinauf, von wo aus wir über die Stadt und auf den Dom blickten, dessen Fassade mit Abertausenden Mosaiksteinchen besetzt sei, wie wir in dem Reiseführer lasen, den ich in einem Kiosk auf dem gebührenpflichtigen Parkplatz in der Nähe des Bahnhofs gekauft hatte, und Maybelle stimmte mir geistesabwesend zu, daß hier an jedem Hundsbrunzeck Dinge stünden, die in jeder amerikanischen Stadt zwischen NYC und L.A. der kulturelle Mittelpunkt wären. Aber wir fühlten uns nicht wohl in diesem urbanen Wunderwerk – ich sah, daß sich Maybelle nicht wohl fühlte, und deshalb war auch mein Herz schwer. Seit wir in dem kleinen Hotel mit dem Namen Bello Sguardo ein Zimmer (mit Blick auf den Parkplatz und unser Auto) gemietet hatten, war sie in eine Aura aus Melancholie gehüllt, die auf mich so majestätisch wirkte – vielleicht auch, weil sie sich mit der wehmütigen Pracht dieser Stadt verband –, daß ich es nicht wagte, sie zu fragen, was der Grund dafür sei. Ihren Vorschlag, unsere Beziehung zu beenden, sobald wir wieder zu Hause sein würden, hatte ich nicht wirklich ernstgenommen. Ich hatte sie auf der Fahrt von Wien nach Slowenien darauf angesprochen; sie hatte mir lächelnd über das Gesicht gewischt und gesagt, ich zerbreche mir meinen Kopf, und das sei doch gar nicht nötig.
    Als wir am Abend im Hotel lagen, schmiegte sie sich an mich, umschlang mich mit ihren Schenkeln und sagte ohne Ton – ich fürchtete, weil sie sonst hätte weinen müssen: »Ich würde in dieser Stadt und in diesem Land nicht leben können.«
    »Wenn du es wünschst, können wir sofort abreisen«, sagte ich.
    »Laß uns morgen sehr früh losfahren«, sagte sie. »Wo diese weißen Berge waren, dort hat es mir gefallen.«
    »Die Berge heißen Dolomiten.«
    »Also laß uns zu diesen Dolomiten fahren.«
    Noch vor Sonnenaufgang brachen wir auf. Hinter Bozen zweigten wir von der Straße ab und fuhren über einen schmalen, gewundenen Weg hinauf in die Berge. In einer Pension mieteten wir ein Zimmer für zwei Nächte. Die Besitzerin war eine junge Frau, die hier allein mit ihrer gerade schulpflichtigen Tochter lebte und ausgezeichnet Englisch sprach; sie sei, wie sie uns beim Abendessen erzählte, vor fünf Jahren als Au-pair-Mädchen in London gewesen. Daß Maybelle schwarz war, schien ihr ebensowenig eine Sensation, wie sie etwas dagegen einzuwenden hatte, daß ein weißer Mann mit einer schwarzen Frau das Bett teilte. Wir waren die einzigen Gäste, die Sommersaison sei vorbei, und bis zur Wintersaison seien noch gut zwei Monate. Eigentlich habe sie ja geschlossen, aber was heiße das schon, sie sei ihre eigene Herrin, und wenn ihr unsere Gesichter nicht gefallen hätten, hätte sie uns kein Zimmer gegeben.
    Am nächsten Morgen sagte Maybelle, sie habe seit ihrer Kindheit nicht mehr so gut geschlafen. Hier heroben waren die Nächte bereits ziemlich frisch, an den Tagen aber herrschten noch sommerliche Temperaturen. Unsere Vermieterin riet uns, eine Bergwanderung zu unternehmen, sie ging mit uns ein Stück weit über die Wiese, die sich hinter ihrem Haus nach oben wellte, und zeigte uns den Berg, auf den wir steigen sollten. Er sah weiß und schroff und gefährlich aus wie alle Berge hier. Er sei leicht zu besteigen, sagte sie, und oben habe man eine herrliche Aussicht. Maybelle war noch nie in ihrem Leben auf einem Berg gewesen. Im Keller unserer Vermieterin waren gut zwei Dutzend Paar Schuhe gestapelt, Maybelle und ich suchten uns passende aus, und einen Wanderstab für jeden gab’s auch.
    Als wir über den Wiesen in den Wald eintraten, der hier zur Hauptsache aus Föhren bestand und nur noch schütter wuchs, waren wir wie aus der Zeit gehoben. Es gab keinen Weg, die Bäume waren mit aufgemalten Farbstreifen gekennzeichnet, diesen Markierungen sollten wir folgen, hatte unsere Vermieterin gesagt. Es sei

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