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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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fragte, ich antwortete, und der Chauffeur lächelte. ›Und nun die Laubsänger!‹ ›Phylloscopus bonelli, Phylloscopus sibilatrix, Phylloscopus trochilus, Phylloscopus collybita, auch Zilpzalp genannt‹ – in diesen Namen war ich verliebt, ich sagte ihn manchmal vor dem Einschlafen wie ein Mantra hundertmal vor mich her. Und zum Abschluß des Examens sagte mein Großvater zum Chauffeur: ›Herr Koch, gleich sind wir da, drosseln Sie die Geschwindigkeit!‹ Und zu mir: ›A propos Drosseln.‹ Und ich, ohne zu zögern: ›Turdus pilaris, Turdus iliacus, Turdus philomelos, Turdus viscicorus, Turdus torquatus, Turdus merula, auch Amsel genannt.‹ Die Sensation aber war unser Eisvogelpärchen. Mein Großvater war so aufgeregt, daß er sein Fernrohr auf eine Astgabel aufstützen mußte, um es ruhig zu halten. Ich sah durch die Okulare meines Feldstechers das Vogelpärchen auf einem Ast dicht über dem Wasser sitzen, Rücken blau und türkis schimmernd, je nachdem, wie das Licht einfiel. Die Bäuchlein ein wunderhübsches Braunorange. Ein flaumiges weißes Fleckchen neben dem langen, spitzen Schnabel. Plötzlich ließen sie sich gleichzeitig fallen, streckten ihren Körper, legten die Flügel an, zwei federngeschmückte Pfeilspitzen, und verschwanden im Wasser. Mein Großvater hielt mich am Ellbogen fest, eigentlich hielt er sich daran fest. ›Alcedo atthis‹, flüsterte er bedeutungsvoll. Wir sahen die beiden auftauchen und auf ihren Ansitz zurückfliegen, in ihrem Schnabel zappelte ein kleiner Fisch, ein Stichling oder ein Moderlieschen. ›Jetzt paß genau auf!‹ flüsterte mein Großvater. Die beiden Eisvögel schlugen die Köpfe der Fische gegen einen Ast, bis die Fische tot waren. ›Und jetzt: Achtung!‹ In einem eleganten Wurf drehten die Vögel ihre Beute um und verschlangen sie Kopf voraus. Wir haben auch das Nest des Eisvogelpärchens gefunden, eine Höhle in der Uferböschung. Zweimal in der Woche nahm sich mein Großvater Zeit. Dann fuhren wir durch das Wiental hinaus, ein ordentliches Stück hinter Hütteldorf, und legten uns dem Nest gegenüber mit unseren Gläsern auf die Lauer. Dieses Abenteuer regte meinen Großvater so sehr an, daß er aus seiner Bibliothek die alten Bücher aushob, schöne Sachen mit handgemalten Bildtafeln, und auf den Fahrten aus der Stadt hinaus erzählte er mir, was er alles über den Eisvogel gelesen hatte. Ich muß sagen, das meiste berührte mich eigenartig. Jeder Satz über das Verhalten dieser Vögel war metaphorisch. Zum Beispiel, daß im Gegensatz zu den anderen Vogelarten, bei denen die stärksten Jungen sich die größten Brocken holen, die Jungen des Eisvogels in Reih und Glied warten, bis sie drankommen, und wenn eines seine Portion gekriegt hat, sich wieder hinten in der Schlange anstellt. Ich konnte nicht glauben, daß die Vögel das alles erlernt hatten, nur um uns Menschen zu ermahnen. Aber es hörte sich so an. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Natur schon vor urdenklicher Zeit diese Vögel dressiert hatte, nur damit sie uns eines Tages als Vorbild für Disziplin dienten, beim Anstellen vor Lebensmittelläden zum Beispiel. Wenn man will, ist die gesamte Natur eine einzige Metapher. Aber doch eben nur, wenn man will. Ich wollte nicht. Mein Großvater war vom Verhalten dieser Vögel gerührt, und als er mir erzählte, er habe gelesen, daß irgendwo in einem strengen Winter zwei Eisvögel gefunden worden seien, der eine den Kopf unter dem Gefieder des anderen festgefroren, wurden ihm die Augen feucht. Das war mir als Dreizehnjährigem peinlich und auch etwas unheimlich. Zuviel Aufwand. Mir wäre lieber gewesen, die Vögel hätten gar nichts mit uns zu tun. So ist es ja wohl auch … – Das war 1919. Revolution und Republik haben meinen Großvater und mich weniger aufgewühlt als der mächtige Regen im Sommer, der das Nest unserer Eisvögel wegschwemmte.
    Mein Großvater überlebte seine Tochter um knapp zwei Jahre. Er ist übrigens gerade so alt geworden, wie ich heute bin. Er hat sich hinübergeschlafen. Wer auch immer mit ausreichender Befugnis und Macht auf diesem Gebiet ausgestattet sein mag – ich bitte ihn um ein ähnliches Dahinscheiden.«
    »1944 ist meine Mutter gestorben. Acht Jahre zuvor habe ich sie zum letztenmal gesehen. Ich hatte sie in ihrer Wohnung besucht. Diesmal war ich aus Lissabon gekommen, und anstatt Schallplatten brachte ich ihr eine Fotografie mit, auf der Margarida und ich zu sehen waren. Unser Hochzeitsfoto in geprägtem

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