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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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realitätsnäher ausmalen können als wir, die wir wie Mönche auf der Mesa von Los Alamos saßen und Tag und Nacht über die Waffe nachgrübelten, die ihn beenden sollte. Nein, ich hatte keine Ahnung vom Krieg. Nicht die geringste. Ich konnte mir zum Beispiel nicht vorstellen, daß Krieg süchtig machen kann. Ich war zurückgekehrt zu einem Volk von Süchtigen auf Entziehungskur. Zu dieser Einschätzung kam ich nach wenigen Tagen. Die Universität hatte ihren Betrieb zwar bereits im Wintersemester 1945 wieder aufgenommen. Mit dem 1. Mai 1946 hätte ich meine Stelle als Dozent bei den Mathematikern antreten sollen. Aber nichts funktionierte. Überall hingen zwar Kundmachungen der Alliierten aus, in Deutsch, Englisch, Russisch, Französisch, daß sein Studium fortsetzen oder beginnen könne, wer über die nötigen Voraussetzungen verfüge, und wo sich melden solle, wem die eine oder andere Prüfung fehlte. Aber was hieß das schon! Es gab zu wenig Räume und zu viele Studenten oder zu wenig Studenten, je nachdem, in welchem Fachbereich du zu tun hattest. Die Vorlesung, für die ich mich vorbereitet hatte, wurde immer wieder verschoben, immer gaben die Amerikaner andere Gründe dafür an, dann waren es wieder die Briten, niemand wußte über irgend etwas wirklich Bescheid, der größte Teil meiner Zeit bestand aus Warten – und so machte ich mich eben in dieser im Vergleich zu der kolossalischen Weltgeschichte um mich herum winzigen Angelegenheit kundig. Langeweile ist nur mittels Tun zu befrieden, mittels Beschäftigung – was noch lange kein Schaffen, aber vielleicht so etwas wie die kleine Form davon ist; oder die Parodie, was meinst du? Ich jedenfalls habe mich mit der Zergliederung eines Briefes beschäftigt. Entsprach meiner Neigung. Und ein Tun war es auch. Es hatte keinen Sinn – but it makes sense .«
6
    Weiter Carls Erzählung:
    »Irgendwann meinte ich, doch auf etwas gestoßen zu sein. Sieh dir das Blatt genau an! Nicht die Schrift diesmal, sondern das Briefpapier! Briefpapier des XX. Korpskommandos Brixen. Mit aufgedrucktem Emblem. Das soll wohl eine Doppellilie sein, schätze ich. Aber: Ein Emblem des XX. Korpskommandos Brixen – was soll das sein? Daß eine Militärkommandantur ein eigenes Briefpapier hatte? Und ein eigenes Emblem? Jede k.u.k. Kommandantur ein eigenes Briefpapier mit eigenem Emblem?
    Zufällig traf ich Rudi Papuschek, ›unseren Herrn Papuschek‹. Er freute sich, mich zu sehen. Sein Haar war schwarz und ölig wie immer, am Kinn hing immer noch das kleine Hexenmeisterbärtchen, das Gesicht war aber deutlich schmaler, als ich es in Erinnerung hatte. Ein Mittel, sich den Bart und die Haare zu färben, hat er immerhin, dachte ich. Um ein deutliches Stück zu sehr freute er sich. Das Zuviel an Freude sollte natürlich einen Vorwurf verdecken. Es hatte sich unter den Angestellten meines Großvaters herumgesprochen, daß ich mit den Amerikanern nach Wien zurückgekehrt war. Ich lud ihn ins Café Mozart zu Kakao und Kuchen ein. Demonstrativ zahlte ich mit Dollars. Auch das hätte dem Alten vom Rudolfsplatz gefallen, denke ich. Ich wußte, Rudi Papuschek war immer ein glühender Monarchist gewesen, jedenfalls bis in die dreißiger Jahre hinein. Wie er die Welt und die Menschen nach 1938 sah, wußte ich nicht.
    ›Können Sie sich vorstellen‹, sagte ich zu ihm, ›daß eine k.u.k. Korpskommandantur, sagen wir im Jahr 1905, sagen wir in Brixen, ein eigenes Briefpapier hatte?‹
    Er wunderte sich nicht. Tat so, als ob ihm so eine Frage täglich vorgesetzt würde, seufzte empfindsam durch die Nase. Er werde sich erkundigen, sagte er. Er wußte, die Antwort wird vergolten. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag um die gleiche Zeit am selben Ort.
    Als ich kam, hatte er bereits gegessen. Er hatte wirklich Hunger. Der Vater seines Schwagers, sagte er, ein gewisser Hofrat Dr. Mader, inzwischen längst pensioniert, sei unter dem Kaiser in einflußreicher Stelle im Kriegsministerium tätig gewesen, der könne solche Fragen kompetent beantworten. Meine Erlaubnis vorausgesetzt, habe er bereits mit ihm gesprochen, und er sei gern bereit, mir Auskunft zu geben. Was hatte er sich doch für eine Blasiertheit angewöhnt! Er war unser bester Mann gewesen. Wenn Herr Papuschek über Kakao oder Kaffee referierte, konnte man meinen, der Plantagenbesitzer persönlich halte hof in unserem Geschäft. Seine Philosophie hatte gelautet: Unternehmer und Angestellter dienen beide dem Produkt, und wenn der

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