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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Es war eine aufregende Entdeckung, daß ich niemanden für mein Glück benötigte, daß ich allein sein konnte, daß ich gut mit mir selbst auskam und mir einbilden durfte, keine Angst haben zu müssen, daß sich das je ändern würde.
    Ich war leider nur etwas länger als ein halbes Jahr in Innsbruck. Wir zogen nämlich für fünf Monate nach Lissabon, wo Carl überraschend zu einem Gastsemester an die gerade eröffnete Cidade Universitária eingeladen worden war. In Lissabon besuchte ich keine Schule; erlaubt war das wahrscheinlich nicht, aber es fragte ja niemand. Ich las sehr viel, auch Bücher, für die ich zu jung war – William Faulkners Absalom, Absalom! , das mir wie ein Fiebertraum vorkam, Der Spieler von Dostojewski, Die Elenden von Victor Hugo, Der Geheimagent von Joseph Conrad – in dem ich dem bösesten Menschen begegnete; am liebsten aber waren mir doch die zwei großen Buben-Romane von Mark Twain, die ich aus Innsbruck mitgebracht hatte, und wenn ich allein zum Tejo hinunterging und mich an den Kai setzte, bildete ich mir ein, vor mir liege der Mississippi und hinter mir nicht das glänzende Lissabon, dem ich so wenig abgewinnen konnte, sondern das Dorf St. Peterburg, und ich sei zwar immer noch ich, aber meine Freunde hießen Tom Sawyer, Joe Harper, Ben Rogers und – der liebste – Huckleberry Finn. Die Wohnung war im ersten Stock eines satten Bürgerhauses in der Rua do Salitre vor dem Botanischen Garten, Carls Großvater hatte Teile des Hauses in den frühen zwanziger Jahren gekauft; im Erdgeschoß war das Kontor der Handelsgesellschaft Bárány & Co. untergebracht gewesen, bis Carl nach dem letzten Krieg die Anteile der Familie verkaufte. Er hatte auch die Wohnung verkaufen wollen, aber Margarida war dagegen gewesen, sie wollte, wie sie sagte, »eine Heimat in ihrer Heimat« haben. Die Wohnung war einschüchternd großbürgerlich möbliert. Außer den erwähnten Büchern stand nur portugiesische Literatur auf den Borden, darum las ich, was ich lesen konnte, zweimal, dreimal hintereinander. Jeden Tag spielten wir zwei Stunden Schule, Margarida unterrichtete mich in Geographie und Latein, Carl in Deutsch und Mathematik, und er erzählte mir auch gelegentlich von österreichischer Geschichte; und als ich schließlich nach einem Jahr nach Wien zurückkehrte, war ich meinen Mitschülern der 2a am Hegel-Gymnasium (ja, demselben, das Carl besucht hatte) in allen Fächern überlegen. In Mathematik erklärte mich der Professor gar zu einem Wunderkind, allein aufgrund der Tatsache, daß ich Namen wie Gauß, Euler, Riemann und Hilbert kannte und Begriffe wie Axiom, Primzahl und Theorem aussprach, als wüßte ich, was sie bedeuteten.
    In Lissabon fühlte ich mich nicht wohl. Mein Alleinsein in Innsbruck hatte sich in die Ordnung der Tage eingebettet; eine allumfassende, gütige Ruhe war diese Ordnung gewesen, und die Stunden, die ich mit mir allein verbrachte, waren meine Improvisationen innerhalb eines festen Themas, und dieses feste Thema waren meine »idealen« Eltern. In Lissabon gab es kein Thema, alles war Improvisation, nicht einmal die Unterrichtsstunden mit Margarida und Carl waren fix. Die Tage zerfielen, und die Gemeinschaft zwischen uns dreien zerfiel, und wenn wir zusammen waren, schien es wie Zufall. In Lissabon fühlte ich mich einsam; die Stadt erteilte mir eine traurige Lektion, nämlich: daß in der Einsamkeit nicht ein Korn vom Glück des Alleinseins enthalten ist …
    Innsbruck aber war mein Paradies gewesen: Margarida hatte gekocht, ich währenddessen am Küchentisch meine Hausaufgaben erledigt. Wir warteten auf Carl, redeten miteinander, geistesabwesend beide. Zwischendurch stand sie am Fenster und rauchte eine, hielt die Hand mit der Zigarette erhoben, als melde sie sich zu Wort. Der Rauch, erklärte sie mir, ziehe im oberen Teil des Fensters hinaus, während im unteren Teil die frische Luft hereinziehe. Das war ein verehrungswürdiges Naturgesetz. Die Tage waren geregelt, alles geschah immer zur gleichen Zeit; ich wußte, was es an welchem Tag zu essen gab, und pünktlich um fünf Uhr am Nachmittag – die Stunde der Mathematiker – tranken wir Tee und aßen englisches Ingwergebäck, und Margarida zündete eine Kerze an, und Carl legte eine Jazzplatte auf und erzählte mir von den Musikern, die hier miteinander spielten. Ich lag auf dem Teppich, die Hände im Nacken und hörte zu. – Wann immer ich mir das Glück in ein Bild fasse, zeigt es diese Abende. – Besonders

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