Abendruh: Thriller (German Edition)
vaterlos. Sie dachte an all die Menschen, die gestorben waren: die Clocks, die Yablonskis, die Wards; die Ackermans, die Temples und die Buckleys. Tot, alle tot, nur weil eine Frau der Verlockung des unermesslichen Reichtums nicht hatte widerstehen können.
Die Sendung war zu Ende. Während die anderen Detectives aufstanden und sich anschickten, den Raum zu verlassen, blieb Jane auf ihrem Stuhl sitzen und dachte über Gerechtigkeit nach. Darüber, dass die Toten nie etwas davon hatten. Für sie kommt die Gerechtigkeit immer zu spät.
»Das war gute Arbeit, Rizzoli«, sagte Lieutenant Marquette.
Sie blickte auf und sah ihn in der Tür stehen. »Danke.«
»Und wieso ziehen Sie dann ein Gesicht, als ob Ihre beste Freundin gerade gestorben wäre?«
»Es ist einfach unbefriedigend, verstehen Sie?«
»Sie sind diejenige, die Justine McClellan unschädlich gemacht hat. Was könnte befriedigender sein?«
»Vielleicht, wenn ich die Toten wieder zum Leben erwecken könnte?«
»Das wäre jenseits unserer Gehaltsklasse. Wir sind bloß die Aufräumtruppe.« Er sah verärgert auf sein klingelndes Handy. »Die Presse spielt schon wieder verrückt. Und das ist ein echtes Problem, denn diese Geschichte ist ein verdammt heißes Eisen.«
»Eine abtrünnige CIA -Agentin? Tote Amerikaner?« Sie schnaubte. »Was Sie nicht sagen.«
»Unsere Freunde vom FBI haben uns einen Maulkorb verordnet. Vorläufig lautet die Antwort also ›Kein Kommentar‹, okay?« Er legte den Kopf schief. »Und jetzt verschwinden Sie hier. Fahren Sie nach Hause, und genehmigen Sie sich ein Bier. Sie haben es verdient.«
Das war das Netteste, was Marquette je zu ihr gesagt hatte. Ein Bier – das hörte sich wirklich gut an. Und sie hatte es verdient. Sie raffte ihre Unterlagen zusammen, deponierte sie auf ihrem Schreibtisch und verließ das Präsidium.
Doch sie fuhr nicht nach Hause.
Stattdessen führte ihr Weg sie nach Brookline, wo eine Frau wohnte, die von diesem Fernsehbericht sicherlich ebenso deprimiert war. Ein Frau, die niemanden sonst hatte, an den sie sich wenden konnte. Als Jane an ihrem Haus ankam, stellte sie erleichtert fest, dass noch keine Fernsehübertragungswagen davor standen, doch es würde sicher nicht lange dauern, bis die Presse auftauchte. Jeder Reporter in Boston wusste, wo Dr. Maura Isles wohnte.
Im Haus brannte Licht, und Jane hörte klassische Musik – eine klagende Geigenmelodie. Sie musste zweimal klingeln, ehe endlich die Tür aufging.
»Hallo«, sagte Jane. »Hast du es im Fernsehen gesehen? Das Internet ist auch schon voll davon.«
Maura nickte matt. »Der Zirkus hat gerade erst angefangen.«
»Deswegen bin ich gekommen. Ich dachte mir, vielleicht kannst du Gesellschaft gebrauchen.«
»Ich fürchte, ich bin heute nicht besonders unterhaltsam. Aber ich bin froh, dass du hier bist.«
Jane folgte Maura ins Wohnzimmer, wo sie eine offene Flasche Rotwein und ein fast leeres Glas auf dem Couchtisch erblickte. »Gleich eine ganze Flasche – da hast du dir ja einiges vorgenommen.«
»Möchtest du ein Glas?«
»Kann ich mir stattdessen ein Bier aus deinem Kühlschrank holen?«
»Gerne. Es müsste von deinem letzten Besuch noch eine Flasche da sein.«
Jane ging in die Küche und sah blitzsaubere Arbeitsflächen, kein schmutziges Geschirr weit und breit. Es sah so sauber aus, dass man die Küche als OP -Saal hätte zweckentfremden können, aber so war Maura nun mal. Alles an seinem Platz. Jane merkte plötzlich, wie trostlos das alles wirkte ohne das ganz normale Durcheinander, ohne die kleinste Spur von Unordnung. Als ob überhaupt niemand hier wohnte. Als ob Maura ihr Leben so sauber geschrubbt und desinfiziert hätte, dass sie auch jeden Funken Lebensfreude daraus entfernt hatte.
Sie fand die Flasche Bier, wahrscheinlich Monate alt, öffnete sie und ging damit zurück ins Wohnzimmer.
Die Geigenmusik lief noch, aber der Ton war leiser gestellt. Sie setzten sich aufs Sofa. Maura nippte an ihrem Wein, und Jane nahm einen kräftigen Schluck Bier, wobei sie achtgab, keinen Tropfen auf Mauras makellose Sofabezüge oder ihren teuren Perserteppich zu verschütten.
»Du musst dich doch jetzt auf der ganzen Linie bestätigt fühlen«, sagte Maura.
»Klar. Ich stehe da wie ein echtes Genie. Das Beste daran war, dass wir Crowe so richtig schön von seinem hohen Ross runtergeholt haben.« Sie trank noch etwas von ihrem Bier. »Aber das ist nicht genug, oder?«
»Was ist nicht genug?«
»Einen Fall abzuschließen. Zu
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