Abendruh: Thriller (German Edition)
Und ich glaube nicht, dass ich ihn in dieser Stadt finden werde.«
»Ich fände es gar nicht gut, wenn du Boston verlassen würdest.«
»Du hast hier eine Familie, Jane. Ich nicht.«
»Wenn du eine Familie willst, kannst du gern meine Eltern haben. Sollen sie doch zur Abwechslung dich in den Wahnsinn treiben. Und ich kann dir noch Frankie dazugeben, damit du auch mal ein bisschen Spaß hast.«
Maura lachte. »Den Spaß will ich dir ganz bestimmt nicht nehmen.«
»Die Sache ist doch die: Eine Familie macht einen nicht automatisch glücklich. Ist deine Arbeit dir nicht auch wichtig? Und …« Sie machte eine Pause, bevor sie leise hinzufügte: »Und deine Freunde?«
Draußen auf der Straße hielt schon der nächste Übertragungswagen, und sie hörten Autotüren knallen.
»Maura«, sagte Jane, »ich hätte dir eine bessere Freundin sein sollen. Das weiß ich. Ich schwöre, das nächste Mal werde ich es besser machen.« Sie ging zum Couchtisch, um Mauras Weinglas und ihre Bierflasche zu holen. »Also, lass uns auf unsere Freundschaft trinken.«
Lächelnd stießen sie an und tranken.
Janes Handy klingelte. Sie fischte es aus ihrer Handtasche und sah eine Vorwahl aus Maine auf dem Display. »Rizzoli«, meldete sie sich.
»Detective, hier ist Dr. Stein vom Eastern Medical Center. Ich bin der behandelnde Neurologe von Mr. Clock.«
»Ja, wir haben neulich miteinander gesprochen.«
»Ich, äh, ich weiß nicht so recht, wie ich Ihnen das sagen soll, aber …«
»Er ist tot«, sagte Jane, die sich schon denken konnte, was der Anlass dieses Anrufs war.
»Nein! Das heißt … soviel ich weiß, nicht.«
»Wie können Sie das nicht wissen?«
Am anderen Ende war ein verlegener Seufzer zu hören. »Wir können uns nicht so recht erklären, wie es passiert ist. Aber als die Schwester heute Nachmittag in sein Zimmer kam, um seine Vitalzeichen zu kontrollieren, war sein Bett leer, und seine Infusionskanüle war herausgezogen. Seit vier Stunden schon suchen wir das ganze Krankenhausgelände ab, aber wir können ihn nicht finden.«
»Vier Stunden ? So lange ist er schon verschwunden?«
»Vielleicht auch länger. Wir wissen nicht genau, wann er das Zimmer verlassen hat.«
»Doktor, ich rufe Sie gleich zurück«, unterbrach sie ihn und legte auf, um sofort die Nummer der Inigos zu wählen. Es läutete einmal. Zweimal.
»Was ist passiert, Jane?«, fragte Maura.
»Nicholas Clock ist verschwunden.«
» Was? « Maura starrte sie an. »Ich dachte, er liegt im Koma.«
Am Telefon meldete sich Nancy Inigo. »Hallo?«
»Ist Teddy da?«, fragte Jane ohne lange Vorrede.
»Detective Rizzoli, sind Sie das?«
»Ja. Und ich mache mir Sorgen um Teddy. Wo ist er?«
»In seinem Zimmer. Er ist nach der Schule nach Hause gekommen und gleich nach oben gegangen.«
»Bitte gehen Sie doch rauf, und sehen Sie nach ihm. Jetzt gleich.«
Im Hintergrund war das Knarren der Treppenstufen zu hören, während Nancy Inigo sie fragte: »Können Sie mir verraten, worum es geht?«
»Das weiß ich nicht. Noch nicht.«
Jane hörte Nancy an die Tür klopfen und rufen: »Teddy, darf ich reinkommen? Teddy?« Eine Pause und dann Nancys aufgeregte Stimme: »Er ist nicht hier!«
»Durchsuchen Sie das Haus«, wies Jane sie an.
»Moment, warten Sie, da liegt ein Zettel auf dem Bett. Es ist Teddys Handschrift.«
»Was steht da?«
Am anderen Ende konnte Jane Papier knistern hören. »Der Zettel ist an Sie adressiert, Detective«, sagte Nancy. »Da steht: Danke. Wir werden schon zurechtkommen. Das ist alles.«
Danke. Wir werden schon zurechtkommen.
Jane stellte sich vor, wie Nicholas Clock, wundersamerweise aus dem Koma erwacht, sich die Infusionskanüle herauszog und zur Krankenhaustür hinausspazierte. Wie Teddy den Zettel auf sein Bett legte, ehe er sich aus dem Haus der Inigos schlich und in der Dunkelheit verschwand. Beide wussten ganz genau, wohin ihr Weg führte, denn ihr Ziel war das gleiche: eine gemeinsame Zukunft als Vater und Sohn.
»Haben Sie eine Ahnung, was das bedeuten soll?«, fragte Nancy.
»Ja. Ich glaube, ich weiß ganz genau, was das bedeutet«, sagte Jane leise und legte auf.
»Nicholas Clock ist also am Leben«, sagte Maura.
»Nicht nur das. Er ist endlich wieder mit seinem Sohn vereint.« Jane blickte aus dem Fenster auf die Übertragungswagen und das wachsende Rudel von Reportern und Kameraleuten. Und obgleich sie lächelte, sah sie die Lichter dieser ganzen Fahrzeuge plötzlich verschwommen durch einen Tränenschleier. Sie
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