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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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… Daß Ziesche heute morgen umgekommen ist, das ist auch die Vorsehung gewesen, sonst wär mir’s nämlich dreckig gegangen, Gertie und mir … Es ist eben doch gut, daß es eine Vorsehung gibt … Glaube an die Vorsehung, Glaube an Gott … Ich glaube an einen Sinn der Geschichte, das hab ich doch irgendwann einmal gehört, der Doktor Goebbels muß das gesagt haben, in einer Rede … Ich glaube … aber mein Vater, mein Vater? … der hat immer das Gesicht verzogen, wenn einer vom Glauben sprach, von der Vorsehung … Kunststück: Der Intellektuelle glaubt nicht, weil er nicht glauben kann, das hab ich auch gelesen, bei Hanns Johst, und mein Vater ist überhaupt ein typischer Defätist, ein richtiger Miesmacher! In der Schule mußte ich mal zwei Seiten Hanns Johst auswendig lernen: Es gibt in der Provinz des Glaubens keine Problematik, sondern eine Gnade, ja, keine Problematik, sondern eine Gnade, das hab ich damals nicht verstanden, heute versteh ich’s: man muß an den Führer glauben, an die Vorsehung, an den Endsieg, an die Me 163, an die V 1, an den neuen Ein-Mann-Torpedo, auch wenn die Russen bei Wilna weiter nach Westen vordringen, na, und mit der Invasion, vonwegen: die Brust hebt sich im Vorgefühl der entscheidenden Stunde …
    »Schlaf nicht!« Holt wurde in die Seite gestoßen, das war Wolzow. Na ja doch! Der Führer spricht! Holt sah sich blinzelnd um: alles starrte wie gebannt auf das Radio. Die heisere Stimme im Lautsprecher schrie: »… wie im Jahre 1918 den Dolchstoß in den Rücken zu führen …«
    Richtig, der Dolchstoß! dachte Holt schläfrig. Das war wohl die größte Gemeinheit damals! Wenn man sich das so überlegt, ein Dutzend Zuhälter und Deserteure, und sie haben der Front einfach die Waffe aus der Hand gewunden … aber im Lesebuch stand: Und ihr habt doch gesiegt … und schlägt’s dich in Scherben, ich steh für zwei, und geht’s zum Sterben, ich bin dabei …
    »… ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden …«
    Ausgerottet: das hörte Holt noch, dann nickte er ein. Aber Wolzow stieß ihn derb in die Seite: »Mensch, hör zu!« Holt raffte sich noch einmal auf und mühte sich, der Stimme im Radio zu folgen. »… befehle daher in diesem Augenblick: Erstens, daß keine Zivilstelle irgendeinen Befehl entgegenzunehmen hat von einer Dienststelle, die sich diese Usurpatoren anmaßen. Zweitens, daß keine Militärstelle, kein Führer einer Truppe, kein Soldat irgendeinen Befehl dieser Usurpatoren …«
    Was bedeutet bloß Usurpatoren? grübelte Holt, das muß doch aus dem Lateinischen kommen, ach ja, usu rapere, damit war Wiese mal dran, Peter Wiese, der hat’s gut, der ist daheim und kann schlafen! »… entweder sofort zu verhaften oder bei Widerstand augenblicklich niederzumachen …« Niederzumachen, auszurotten, dachte Holt, er begann zu frieren, aber das ließ ihn wieder munter werden. »… freudig begrüßen«, hörte er verständnislos, da er den Zusammenhang verloren hatte, »daß es mir vergönnt war, einem Schicksal zu entgehen, das nicht für mich Schreckliches in sich barg, sondern das den Schrecken für das deutsche Volk gebracht hätte. Ich ersehe daraus auch einen Fingerzeig der Vorsehung, daß ich mein Werk weiterführen muß und daher weiterführen werde …« Stille. Eine andere Stimme: »Großdeutscher Rundfunk …« Vorbei!
    Ringsum setzte heftiger, wenn auch gedämpfter Stimmenlärm ein, alles redete durcheinander. Holt klapperte mit den Zähnen. »Batterie …«, rief Gottesknecht langgezogen, und der Stimmenlärm verstummte, »… Achtung!« Ein einziges, donnerndes Füßeaufstampfen. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner standen bewegungslos. Kutscheras Stimme, rauh und brüllend wie je, füllte den niedrigen Kantinenraum. »Befehle werden nur von direkten Vorgesetzten entgegengenommen!« Pause. Dann: »Die schwere Heimatflakbatterie 107 steht in bedingungsloser Treue zum Führer! Sollte jemand in der Batterie …« Pause. Dann: »… oder sollte irgendeiner unter den Flakwehrmännern glauben, jetzt könnte man bißchen aufwiegeln,Zersetzung treiben …« Pause. Dann: »Den leg ich selber um, an Ort und Stelle! Da bin ich mir gar nicht zu fein dazu!«
    Die Tür fiel ins Schloß. Gottesknecht ließ auf die Stuben wegtreten. Holt sah auf die Uhr. Es war null Uhr dreißig Minuten. Luftwaffenhelfer und Flakwehrmänner verloren sich in der Weite des Batteriegeländes, kletterten in der Dunkelheit durch das

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