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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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erobern müssen …«
    Holt hatte kaum aufgeatmet, von der zermürbenden Anspannung des Luftkrieges befreit, er hatte sich kaum in die Atmosphäre der kleinen Stadt und des Urlaubs eingewöhnt, da stießen ihn Wolzows Worte in die alte Niedergeschlagenheit zurück und riefen die Erinnerung wach: »… Eroberungskrieg vorbereitet und entfesselt …«, so hatte Vater gesagt, und auch Gomulkas lakonische Worte angesichts der verhungernden Gefangenen waren gegenwärtig: »Sie haben nicht angefangen …«
    »Einer wie ich«, redete Wolzow unterdessen weiter, »na, wie soll ich sagen? … der
bejaht
den Krieg, und wenn keiner wäre, müßte man schnell einen anfangen. Es muß ein ordentlicher Krieg sein, nicht so’n Ramschkrieg wie 1806, sondern nach allen Regeln der Kriegskunst, wie bei Alexander oder Napoleon. Also frag nur, jetzt haben wir Zeit. Willst du die Lage erläutert haben? Wir kämpfen nun langsam auf der inneren Linie, und das schöne Vorfeld ist hin.«
    Holt rauchte, er ließ Wolzow reden. Er sah auf die Uhr und erschrak. »Schluß! Das Wehrbezirkskommando macht zu!«
     
    Sie trafen Gomulka in der Stadt. Der Regen war versiegt, die Wolkendecke riß auseinander, und ab und zu huschte Sonnenlichtüber die Erde. Sie gingen stadtwärts. Nachdem sie sich auf der Urlauberstelle gemeldet hatten, bummelten sie durch die engen Kleinstadtstraßen zum Marktplatz.
    Sie gingen an einem Lebensmittelgeschäft vorbei. Aus der Ladentür trat ein schmächtiges, sehr junges Mädchen und trat noch einmal zurück, um die drei vorbeigehen zu lassen. Das Mädchen, in einem ärmlichen bunten Kleid, trug am Arm einen Einkaufskorb.
    Ihr Haar war braun. Auch ihre Augen waren braun. Ihr Blick streifte über Holt hinweg. Er dachte: … da stand das Kind am Wege …, es war eine Zeile aus einem Gedicht, das er einmal gelesen hatte: Da stand das Kind am Wege. Das kleine Mädchen mit den roten Schuhen fiel ihm ein. Er blieb stehen. Warum sieht sie so traurig aus?
    Das fremde Mädchen ging den Weg zurück, den er eben gekommen war. Über ihr lastete der Himmel mit seinem Regengewölk. Durch ein Wolkenloch ergoß sich Sonnenlicht und blendete Holt. Er ging weiter. Was war das? dachte er.
Wer
war das? Wolzow schalt: »Der Kerl pennt am hellichten Tage!«
     
    Auf dem Marktplatz begegneten sie einer Rotte junger Leute, Peter Wiese war dabei und Herbert Wurm, bei dessen Anblick Wolzow die Brust mit dem Ordensband herauswölbte, und dann die Mädchen: Rutschers Schwester, die Friedel Küchler in Uniform, ihre Freundin, Putzi genannt, noch drei, vier andere. Sie trugen Badesachen bei sich. »Donnerwetter, der Wolzow mit ’m EK!« hieß es. »Und das, was ist das?« – »Flakschießabzeichen, gibt’s bei soundsoviel Abschüssen.« Man schlug den Weg zur Badeanstalt ein. Holt blieb stehen. »Wir wollten doch Zemtzkis Eltern besuchen.« Rutschers Schwester war noch blasser als früher und zog Holt beiseite. »Sie waren doch mit ihm am Geschütz …« Nichts erzählen! Holt dachte an den zertrümmerten Geschützstand, an die umgestürzte Kanone. Läuft mir der Krieg bis hierher nach? Die Mädchen erzählten von Einsätzen im Kinderlandverschickungslager … Man verabredete sich für den kommenden Tag.
    Sie besuchten Zemtzkis, saßen verlegen auf den Stühlen und redeten Frau Zemtzki ein, die Sache mit dem Müo sei wirklich nur ein Gerücht. »Ein ganz gemeines Gerücht«, meinte Wolzow. Draußen schwur er: »Das war der erste und letzte Besuch dieser Art! Zu meiner Mutter braucht auch keiner hinzugehn, wenn’s mich erwischt.« Gomulka ging zum Zahnarzt, um endlich die Lücke in der Schneidezahnreihe schließen zu lassen.
    Nachts schreckte Holt ein Angsttraum aus dem Schlaf: Flammen, überall Flammen … Es wird noch oft wiederkehren. Es ist erst drei Tage her! Drei Tage. Die Zeit ist durcheinander. Wie alt bin ich jetzt? Siebzehneinhalb. Wenn es bis zum Flakeinsatz sechzehneinhalb gewesen sind, dann müssen seither dreißig, fünfzig Jahre verstrichen sein. Noch mehr. Die Feuernacht in Wattenscheid allein hat hundert Jahre gedauert. Er sank wieder in Schlaf, glücklich in dem Gedanken: keine Alarmglocke, keine Mosquitos, keine Leitungsprobe. Im Einschlafen dachte er wieder: Da stand das Kind am Wege … mit einem Einkaufskorb.
     
    Wolzow triumphierte am nächsten Morgen: »Herrliches Wetter! Der Himmel verläßt die alten Krieger nicht!« Beim Frühstück erzählte er, was er sich vorgenommen hatte: »Da liegen noch die Tagebücher von meinem

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