Abenteuer des Werner Holt
BdM-Führerin, nach einer Weile. »Die ist evakuiert, aus Westdeutschland, ich glaube aus Schweinfurt. Die soll hier oben« – sie tippte mit dem Finger an die Stirn – »nicht ganz in Ordnung sein. Von ihrer Scharführerin weiß ich, daß sie keine Eltern mehr hat und in Schweinfurt Dienstmädchen war, das heißt, sie war im Pflichtjahr. Sie ist ja erst fünfzehn. Sie soll bei einem Angriff verschüttet worden sein, und als man nach einer Woche den Keller geöffnet hat, war alles tot, bloß sie hat noch gelebt. Dann hat sie im Krankenhaus gelegen. Jetzt ist sie hier bei einer kinderreichen Familie im Pflichtjahr, der Mann ist in der SS, dort ist sie gut aufgehoben. Im Mai mußte sie wieder ins Krankenhaus. Jetzt hat sie Schonung und braucht bloß vormittags zu arbeiten.«
Wolzow legte sich lang auf die Planken. »Krieg ist eben Krieg.« Holt kämpfte gegen die Vision eines Kellers, in dem sich zwischen erstarrten Leichen ein Lebender um den Verstand schrie. Er hörte ringsum das Geplauder der Mädchen. Er fragte mit heiserer Stimme: »Warum kümmert ihr euch nicht um sie?« Man verstummte. »Die will ja nicht. Die weicht ja allen aus.«
Holt sprang auf. »Volksgemeinschaft«, höhnte er, »alle für einen …« Er sah viele Augenpaare verständnislos auf sich gerichtet. Ihm war, als höre er die blonde BdM-Führerin von verschworener Gemeinschaft reden, und das war noch kein Jahr her! Er hörte auch Frau Ziesches Stimme: Laß doch das Kind! Mich mußt du retten! Dann wandte er sich rasch ab. Hinter seinem Rücken sagte Gomulka: »Er hat so was vor paar Tagen selbst erlebt.«
Das ist es ja gar nicht, dachte Holt, als er das Floß entlangging. Ich hab es durchgestanden, ich würde es wieder durchstehen.
Am Ende des Floßes, wo die Paddelboote und Angelkähne befestigt waren, setzte er sich nieder und ließ die Füße ins Wasser hängen. Der Fluß glänzte im Licht.
Acht Tage verschüttet! dachte er. Er sah sich das kleine Mädchen mit den roten Schuhen zum Verbandplatz tragen, und jemand sagte: Ex. Die Mühe hätten Sie sich sparen können. Brennendes Dachgebälk krachte auf die Straße, und Funken stoben bis in den Hausflur … Kennen Sie einen Oberst Barnim? Und dann: … erschossen worden. Was ist mit Uta? Vielleicht lebt sie nicht mehr … Vielleicht hat sie nie gelebt. Vielleicht hab ich Uta nur geträumt, wie die Mustangs, den Schmiedling, die Bombenteppiche.
Er erhob sich und ging langsam zu dem Mädchen, das noch immer in der Sonne saß, den Rücken an die Planken des Geländers gelehnt. Er setzte sich an ihrer Seite auf den Boden. »Ich heiß Werner Holt. Ich bin Luftwaffenhelfer und hab Urlaub.« Sie wandte flüchtig den Kopf zu ihm hin. Langsam stieg ihr die Röte in die Wangen.
Wenigstens ist sie nicht gleich fortgelaufen, dachte er. Ihr Gesicht war ihm eigentlich gar nicht fremd, die bewimperten Lider,die dunklen Brauen und die roten Lippen. Ich darf sie nicht so anstarren, sonst läuft sie doch noch weg! Was sag ich bloß? »Ich bin auch fremd, ich bin erst voriges Jahr hierher aufs Gymnasium gekommen, nur ein paar Monate, dann ging’s zur Flak.«
Flak ist falsch, dachte er. Luftwaffenhelfer war auch falsch, das erinnert sie an den Bombenkrieg. »Ich hab’s zu Hause nicht länger ausgehalten, ich weiß nicht, warum.« Zu Hause, das ist auch falsch, weil sie keine Eltern mehr hat … Eigentlich hab ich auch keine Eltern mehr. »Sie müssen … Du mußt entschuldigen«, sagte er verwirrt. »Ich rede lauter Unsinn … Es ist aber auch schwer«, sagte er gradheraus, »ein fremdes Mädchen anzusprechen. Außerdem hab ich Angst, daß du fortläufst.«
Sie rührte sich nicht.
»Ich hab dich schon gestern gesehen, mit dem Einkaufskorb«, fuhr er fort. »Am liebsten wär ich dir gleich nachgegangen. Als ich hörte …« Jetzt schlug sie die Augen auf, aber sie blickte geradeaus … »… daß du aus Schweinfurt bist …« Er dachte: Was red ich da? »… als ich das hörte, dachte ich, daß dich hier überhaupt keiner verstehen kann.«
Sie schloß die Augen und saß unbeweglich.
Verstehen, dachte Holt, kann man denn überhaupt einen anderen Menschen verstehen? »Wir sind im Ruhrgebiet eingesetzt. Ich weiß nicht, wie oft ich in den Luftlagemeldungen gehört hab: ›Raum Würzburg–Schweinfurt‹ …« Er erinnerte sich sehr deutlich. Es war im Oktober gewesen, die Amerikaner hatten an die tausend Begleitjäger mitgeschickt, und die Luftkämpfe zogen sich von der holländischen Grenze bis in
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