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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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erst, wenn meine Zeit herum ist, dann such ich mir daheim in Schwerin was.« Als die Krankenträger erschienen, hatte Schwester Regine das Zimmer verlassen. Holt dachte, da er die Treppe hinuntergetragen wurde: Ich hätte ihr gern auf Wiedersehen gesagt …
    Er bezog mit Gomulka ein zweibettiges Abteil. Wolzow lag nebenan. Holt hörte ihn durch die dünne Abteilwand schimpfen: »Nimm doch deine Knochen zur Seite, Döskopp!« Das Pflegepersonal war unfreundlich und mürrisch.
    Am anderen Morgen erreichten sie Prag. Holt hatte nicht geschlafen, die Schienenstöße bereiteten ihm Schmerzen. Auch Gomulka fühlte sich elend. Zwischen Prag und Dresden hielt der Zug oft und lange auf freier Strecke. Sie brauchten vierundzwanzig Stunden bis Schandau, dort standen die Wagen einen Tag lang auf einem Abstellgleis. Am anderen Morgen erreichte der Zug endlich Dresden. Sanitätskraftwagen brachten sie in ein großes Reservelazarett. Holt, Wolzow und Gomulka lagen wieder Bett an Bett.
    Man sah von den Fenstern hinab zur Elbe. Der Lazarettbetrieb erinnerte eher an eine Kaserne als an ein Krankenhaus. Nach wenigen Tagen sagte Wolzow: »Ich hab das satt. Ich meld mich gesund!« Am Nachmittag erhielt er einen Brief von Vetter. Der Rest der Abteilung sei wieder in einem Lager, erzählte er. »Vetter schreibt, er wird voraussichtlich Mitte Oktober entlassen.«
    Tags darauf stand Wolzow marschfertig an Holts Bett. Es war das erstemal, daß sie sich trennten.
     
    Gomulka sprach kaum noch ein Wort. Er lag in seinem Bett und sah vor sich hin. Dann und wann besuchte ihn sein Onkel, der hier in Dresden als Zahnarzt praktizierte. Holt las in den Hölderlin-Gedichten.
    Er gewöhnte sich schwer an das antike Versmaß. Nur wenige der Gedichte erschlossen sich seinem Verständnis. Meist war es nur eine Stimmung, die er nachempfand, eine tiefe Melancholie. Doch Glanz und Wohllaut der Sprache berührten ihn auch dort, wo er die Worte nicht verstand. Es gab Verse, die sich ihm für immer einprägten, die zürnenden Worte des »Jünglings an die klugen Ratgeber« und stärker noch die Elegie »An die Natur«. Er las, bis er die Strophen auswendig wußte. Daß der Jugend Träume sterben, dachte er, das erleb ich jetzt: Hoffnungen und Wünsche lösen sich auf, die Illusionen werden fortgerissen wie ein Vorhang, hinter dem sich das Leben verbirgt. Was bleibt zurück? Das einsame, frierende Ich, dem es gegeben ist, auf keiner Stätte zu ruhen.
    »Und Siegesboten kommen herab:«, las er, »Die Schlacht ist unser!« Das erschütterte ihn. »Lebe droben, o Vaterland, und zähle nicht die Toten! Dir ist, Liebes! nicht Einer zu viel gefallen …« Könnte man doch so sprechen! dachte er. Könnte man den Krieg erleben als furchtbare, doch reine und heilige Aufgabe, wie man sich’s einmal erträumte … Wüßte man doch: Es ist gerecht und darum sinnvoll und gut! Denn nicht der Kampf ist unerträglich und furchtbar, nur die Sinnlosigkeit, das Umsonst der Entschlüsse, das Unrecht der Taten … Wolzows Kampf in der Mühle, dies erkannte er nun, war ein Symbol. Sich schlagen ohne Auftrag und Zweck, nur um eine grauenvolle Bluttat zu verbergen. Wer ist schuld, daß wir unsere Kraft, unser Leben, alles, was wir besitzen, hinopfern müssen ohne Sinn, daß wir umsonst und vergeblich kämpfen, nur, um die Nacht über tausend Sägemühlen festzuhalten?
    So grübelte er, tagelang.
    Er ließ sich in der Lazarettbibliothek Bücher geben und las, was ihm in die Hände geriet, Bücher, die hier herumstanden und nie gelesen wurden: Griechische Kosmogonie von Hesiod bis zur Orphik, eine Abhandlung über Kants Antinomien der reinen Vernunft, Goethes »Faust« und viele Romane, Bände, die wer weiß wie ins Lazarett gelangt waren.
    Als er aufstehen durfte und auch Gomulka das Bett verließ, kamen sie wieder miteinander ins Gespräch. An manchem schönen Oktobertag wanderten sie durch die Anlagen des Krankenhausgartens.Die Sonne wärmte nicht mehr. »Ich überleg mir, wie’s nun weitergeht«, sagte Holt. Gomulka hob die Schultern. »Woher soll ich das wissen?«
     
    Rechtsanwalt Gomulka besuchte seinen Sohn. Er übergab Holt einen Brief von Gundel. Dabei sagte er, in einem Ton, als gratuliere er einem Mandanten zum Freispruch: »Was das junge Mädchen betrifft, mein lieber Werner Holt, so sendet sie Ihnen … Eigentlich«, unterbrach er sich, »müßte ich
es
sagen, aber man darf hier wohl das Genus naturalis dem grammatischen Geschlecht vorziehen … sendet sie Ihnen also dies

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