Abenteuer des Werner Holt
Kasernenkomplex. Dort zerrte man ein paar 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze aus den Hallen. Der Kasernenhof war mit alten Männern vollgestopft, die hier eingekleidet, bewaffnet und zu Volkssturmeinheiten zusammengestellt wurden.
Wolzow fragte sich zum Hauptkommandanten durch. Holt stand an der Straße und sah den Strom der Flüchtlinge vorbeiziehen, Frauen, vom Schneesturm weiß überstiebt, in Decken gewickelte Kinder, Schlitten und Handwagen, Bettzeug, Hausrat, armselige Habe, Greise an Stöcken wankend, zerlumpt, alte Frauen in Umschlagtüchern, ein furchtbarer Zug des Elends, der Verzweiflung. Holt dachte an die verhungernden Gestalten derGefangenen in der Batterie. Nun ist es über uns gekommen. Schnee fiel, immer mehr, und deckte alles zu.
Wolzow kam zurück. »Ich hab einen Kampfauftrag! Los, ab!« Auf der Fahrt erzählte er. Am östlichen Oderufer stand ein Verband Volkssturm. Ob es kampffähige Truppenreste der zerschlagenen Front gab, wußte auch hier niemand. »Wir verstärken die Besatzung einer Panzersperre. Kampfauftrag: Panzer aufhalten, solange’s geht, bis hier eine Linie aufgebaut worden ist. Truppen sind im Anmarsch.«
Die Straße führte zur Brücke. Das Ufer fiel steil zum Wasser ab. Soldaten würgten hinter dem Damm die 15-Zentimeter-Langrohrgeschütze in Stellung. »Von der Artillerieabteilung 64, die hier in Garnison liegt«, erzählte Wolzow, »ist kaum noch was da. Der Kommandeur, ein steinalter Major, ist Kampfkommandant … Blödsinn, hier Langrohrgeschütze aufzustellen!« schimpfte er. »Die gehören fünf Kilometer hinter die Front!« Der Wagen rollte langsam über die Brücke. »Der Kommandant hat hier Rekruten ausgebildet. Seit Verdun, sagt er ganz hilflos zu mir, hat er keine Front mehr gesehen. Ein letzter Rest vom Ersatzhaufen, ein paar Alarmkompanien aus Klein Oels, ein Haufen Volkssturm, das ist seine Truppe.«
Die Oder, dieser mächtige Strom, war an beiden Ufern vereist. In der Mitte trieb die Strömung Schollen mit sich, preßte sie an den Buhnenköpfen zu Packeis auf, das sich über die glatte beschneite Eisfläche bis zu den Ufern hinschob. Zwischen den treibenden Schollen glänzte das Wasser grauschwarz und ölig.
Auf der Brücke begegneten ihnen Flüchtlingstrupps, auch auf der Chaussee. Wolzow ließ immer wieder halten. »Wo ist der Russe?« Man deutete nach Osten: »Sie sollen schon in Namslau sein!« – »Ist dort Militär?« – »Nur Volkssturm.« – »Weiter, Horbeck!«
Leer und einsam lag die Chaussee vor ihnen. Der Sturm wehte den Schnee zu weißen Dünen auf. Langsam kämpfte sich der Wagen voran. Ein Dorf, menschenleer, verlassen. In den Ställen brüllte Vieh. Vetter rief: »Also, hier könnte man eine Sau rausholen!« Wolzow studierte die Karte. »Die Panzer werden unbedingtauf diese Brücke stoßen!« Er sprach, als spiele er mit Leutnant Wehnert am Sandkasten. »Von Kreuzburg her über Namslau … Es gibt keine Nachrichten, keine Luftaufklärung, nichts! Bei Oppeln sollen sie angeblich schon über die Oder sein. Ich hab jedenfalls keine Lust, unter irgendein Volkssturmkommando gestellt zu werden.« – »Das ist richtig!« rief der Gefreite. »Wir bleiben am besten allein!« – »Mein ich auch«, sagte Gomulka. Holt fragte: »Wie kommen wir über die Oder zurück, wenn sie die Brücken sprengen?«
»Das soll uns jetzt aber verflucht egal sein!« sagte Wolzow ungehalten. »Fahr los, Horbeck! Fahr vorsichtig!« Er sah zum Himmel. »Es schneit nicht mehr. Da stinkt’s nach Tieffliegern.« – »Ich denk, die haben keine Luftwaffe?« fragte Vetter. »Was haben die nicht?« rief der Gefreite und wendete den Kopf. »Mann, die haben Schlachtflieger, daß dir noch Hören und Sehen vergehen wird!«
Die Chaussee führte durch einen Laubmischwald. Geäst und Holz waren von funkelnden Schneekristallen überzogen. Dann und wann leuchteten weiße Eisflächen zugefrorener Sümpfe durch die mächtigen Stämme. Fern dröhnte der Donner einer schweren Kanonade. Horbeck stoppte. Wolzow horchte. »Das ist weit weg! Fünfzig Kilometer vielleicht. Geht uns nichts an! Weiter!« Der Wald wich zu beiden Seiten der Straße zurück. Verschneite, sumpfige Wiesen, am Horizont der dunkle Waldstreifen, der bald wieder nahe heranrückte. Dann stieß die Straße in tiefen Wald und bog scharf nach rechts. Etwa sechzig Meter vor der Biegung lag die Panzersperre. Sie stiegen aus.
»Das ist gut gemacht«, sagte Wolzow. »Der Panzer kommt aus dem Wald und sieht die Sperre erst,
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