Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
auch ihr so viel lag. Aber sie hatte ihm auch gezeigt, dass er mit ihr offen reden konnte, dass ihr nichts an seiner Verhaftung lag. Sie wollte nur eines: ihren Sohn retten. Die Polizei war ihr egal.
Der Entführer wollte mit ihr reden. Aber er würde sie nicht mehr zu Hause anrufen. Er wusste ja nun: Dort hörte die Polizei mit.
Nun musste Marie etwas tun. Wenn sie wollte, dass er sich an sie wandte, um mit ihr über Johanns Schicksal zu reden, dann musste sie ihm Gelegenheit dazu geben. Zu Hause war das unmöglich geworden. Nach ihrem Alleingang wurde sie misstrauisch beobachtet. Von Fürbringer und seinen Leuten, aber auch von Robert.
Also musste sie weg. Sich bewegen. Sich sehen lassen. In Bubach. Nur wenn der Entführer sie allein sah, würde er es wagen, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Auch Marie hatte ein Fahrrad. Ein altes Damenrad. Sie fand es angenehmer, in Bubach mit dem Fahrrad in den Supermarkt, in die Bäckerei oder aufs Amt zu fahren. Es gab keine Parkprobleme, und sie konnte unterwegs das eine oder andere Schwätzchen halten.
Marie hatte ihren Einkaufskorb auf dem Gepäckträger. Doch das war nur Tarnung. Marie stand nicht der Sinn nach Einkäufen.
Sie radelte nun jeden Tag durch den Ort.
Sie machte morgens eine lange Tour und nachmittags eine. Sie stellte ihr Rad irgendwo ab, wo viele Menschen sich trafen. Sie lief herum. Sie blieb stehen. Sie wartete.
Das wiederholte sie. Jeden Tag.
Marie war befangen. Weil die Menschen erschraken, wenn sie sie sahen. Die Nachbarn wussten, was geschehen war, sie rechneten nicht damit, dass die Mutter des entführten Kindes mit einem Bastkorb auf dem Gepäckträger quer durch den Ort zum Supermarkt radeln würde.
Marie sah ihren Augen an, was sie dachten: Da ist sie, die Mutter des toten Jungen.
Am fünften Tag nach dem Anruf des Entführers geschah es.
Marie hielt vor dem kleinen Supermarkt in der Ortsmitte und schloss das Rad an den Fahrradständer der Sparkasse an. Sie nahm den Korb und überquerte den Platz mit den Blumenkübeln.
Marie wusste, dass sie unter Beobachtung stand – der Entführer konnte hier irgendwo sein. Er würde sie nicht aus den Augen lassen. Wenn er beabsichtigte, mit ihr in Kontakt zu treten, würde er sicher sein wollen, dass sie allein unterwegs war. Dass keine Polizei sie beobachtete. Deshalb ließ er sich so lange Zeit.
Marie wusste nicht, wie sie gehen, wie sie den Korb halten sollte, ohne dass es verdächtig wirkte. Auf keinen Fall durfte sie verdächtig wirken.
»Frau Lieser!«
Marie blieb stehen. Sie wandte sich langsam um.
Die Frau des Postboten. Ihre weißgrauen Haare waren kunstvoll toupiert, sie trug ein grelles Make-up mit viel zu viel Schwarz um die Augen und mit rosa Puppenbäckchen. Sie war eine notorische Klatschtante. Jetzt stürzte sie auf Marie zu – soweit ihre Körperfülle das erlaubte. Wie ein Kugelblitz. Sie stoppte nicht, sie hielt keinen sozialen Sicherheitsabstand. Sie kam Marie ganz nahe. Sie wollte sie umarmen. Marie machte sich steif. Aber das nutzte nichts. Die fremde Frau drückte ihre Wange gegen Maries Kinn.
»Sie tun mir so leid.«
Marie bemühte sich, ein freundliches Gesicht zu zeigen.
Die Frau schaute sich suchend um. »Wo ist denn Ihr Mann? Er arbeitet doch nicht etwa?«
»Nein. Er ist zu Hause. Es muss immer jemand da sein. Während ich einkaufe, sitzt er am Telefon.«
»Hat denn der Täter schon angerufen? Hat er sich bei Ihnen gemeldet?«
Ihre Augen wurden ganz klein und hinterlistig. Marie wusste: Was sie jetzt sagte, würde sich in Windeseile im ganzen Dorf verbreiten. Sie musste es sich gut überlegen. Wegen Johann. Möglicherweise hörte der Entführer davon. »Es hat sich niemand gemeldet. Wir warten immer noch.«
Die Frau legte die Hände auf ihre rosigen Wangen. »Meinen Sie denn, der Junge lebt noch?«
»Ja, das glaube ich.« Marie drehte sich um und ging schnell davon.
Im Supermarkt ließ sie sich Zeit. Obwohl sie nicht vorhatte, Fleisch zu kaufen, hielt sie sich lange an der Fleischtheke auf. Sie begutachtete die Auslagen und begrüßte zwei Nachbarinnen, die jedoch Abstand hielten.
Dann lief sie durch die Gassen der Regale. Sie suchte nach Nudeln. Als sie sie gefunden hatte, verglich sie die Preise. Sie packte die billigsten Spaghetti in den Einkaufskorb.
An der Käsetheke ließ sie sich etwas Schnittkäse machen, bei den Backwaren suchte sie eine möglichst frische Packung Aufbackbrötchen. Dann hielt sie sich lange in der Obst- und Gemüseabteilung auf, packte
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