Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
Taste.
»Hallo.« Sie klang verschlafen. Marie wusste nicht, wie spät es war.
»Habe ich Sie geweckt?«
Es war die Stimme, die Marie schon kannte.
»Ja. Nein. Ist nicht schlimm«, stammelte sie. Sie sprach leise, damit Robert nichts hörte. Marie kam sich vor wie ein Backfisch bei seinem ersten Rendezvous.
»Sind wir allein?«, fragte die Stimme.
»Ja, das sind wir«, antwortete Marie fest.
»Und die Polizei hat nichts mit dem Handy angestellt?«
»Nein, sie weiß nicht, dass ich das Handy habe.«
»Gut, Frau Lieser. Das ist vernünftig. Wir beide wollen uns ja in Ruhe unterhalten, nicht wahr?«
»Ja. Wie geht es meinem Jungen?«
Der Mann atmete schwer. »Es geht ihm gut.« Mehr sagte er nicht.
In Maries Kopf herrschte ein schreckliches Durcheinander. Sie wollte nichts Falsches sagen, nichts, was ihn verschreckte. Beim letzten Mal hatte er sofort aufgelegt.
Da fiel ihr etwas ein, was ihn vielleicht interessieren würde. »Sie haben die ganze Zeit versucht, das Handy zu orten. Aber es war ja ausgeschaltet. Und jetzt … jetzt ist es eingeschaltet.«
Komischerweise lachte die Stimme auf. »Wenn sie es jetzt orten, werden sie es in Ihrem Bett finden, stimmt’s?«
»Ja. Ich glaube, wir dürfen dennoch nicht lange sprechen.«
Marie wurde plötzlich klar, dass sie sich wie eine Komplizin verhielt. Aber was blieb ihr übrig? Sie musste sein Vertrauen gewinnen. Auf keinen Fall durfte er noch mal auflegen. »Woher haben Sie eigentlich die Nummer?«
»Von Johann. Er hat sie mir gegeben.«
»Natürlich. Woher auch sonst?«, sagte sie.
»Ich bin erleichtert, dass Sie so vernünftig sind, Frau Lieser.« Er seufzte, etwas fiel ihm schwer. »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sie waren … herzzerreißend.«
Marie verstand nicht, was das sollte.
»Sie taten mir so leid, Marie. Ich darf Sie doch Marie nennen, oder?«
»Ja.« Marie fragte sich, ob das der richtige Mann war. Aber er musste es sein. Er hatte ihr doch das Handy geschickt. Er rief sie an. Johann hatte ihm seine Nummer gegeben. Er war der Mann, der ihr Kind in seiner Gewalt hatte.
»Ich fand diese Pressekonferenz so … furchtbar. Wirklich, Marie. Ich habe so mit Ihnen gelitten. Ich kann mir gut vorstellen, was Sie durchmachen. Diese Angst. Und dann die plötzliche Einsamkeit. Das Liebste wurde Ihnen genommen. Es muss schrecklich sein, sein Kind so zu verlieren.«
Jetzt weinte er. Der Mann, der Johann entführt hatte, weinte. Er konnte nicht mehr weitersprechen. »Entschuldigung.« Und dann: »Das geht mir so nahe.«
Marie versuchte, klar zu bleiben. »Hören Sie, wenn Sie mich verstehen, dann lassen Sie mich jetzt mit meinem Sohn sprechen. Bitte, ich will Johann sprechen!«
Der Mann hörte schlagartig auf zu weinen.
Er legte auf.
Marie vergewisserte sich auf dem Display – das Gespräch war wirklich beendet worden.
Natürlich wurde keine Nummer angezeigt. Dennoch, dachte Marie, er muss Vertrauen zu mir haben. Sonst hätte er nicht angerufen. Wenn ich das Handy der Polizei übergeben würde, könnten sie sicher die Nummer zurückverfolgen. Aber wahrscheinlich hatte er sowieso aus einer Telefonzelle angerufen. Oder mit einem Kartenhandy. Nur – wo war Johann gewesen, während der Mann telefoniert hatte?
Erst wurde an der Klinke gerüttelt, dann gegen die Tür geschlagen. »Mit wem redest du?«
Das war Robert. Dabei hatte sie sich solche Mühe gegeben, leise zu sprechen.
Marie schaltete das Handy aus und ließ es zwischen den Matratzen verschwinden.
Dann stand sie auf und öffnete Robert. Er war im Schlafanzug.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Ich habe bloß geträumt.«
»Geträumt?« Robert sah schrecklich aus. So alt und müde.
»Ja, ich hatte einen Albtraum.«
»Warum schließt du die Tür von unserem Schlafzimmer ab?«
»Ich hatte … Angst. Ich schlafe so schlecht. Es richtet sich nicht gegen dich.«
Marie spürte, dass Robert ihr nicht glaubte. Aber er ging wieder.
Marie schlüpfte unter die Decke zurück. Sie angelte Johanns Handy aus der Ritze zwischen den Matratzen und schaltete es ein. Sie hielt den Atem an, während das Handy ein Netz suchte. Aber es war nichts: Das Mann hatte nicht mehr angerufen.
Marie war egal, ob sie sie orten würden. Sie wollte für den Anrufer erreichbar sein. Deshalb ließ sie das Handy an. Sie legte es aber wieder unter das Kopfkissen. Robert sollte nichts mitbekommen, wenn der Mann sich in der Nacht noch mal meldete.
Sie lag lange wach und atmete ganz flach. Sie horchte, sie
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