Abgang ist allerwärts
Wochen regnete. Es gab Wichtigeres. Nur einen Tag vor Heiligabend sprachen sie noch einmal alle von Norbert. Er hatte, in eine grobe Decke gewickelt, neben dem Förster auf dem kleinen Pferdewagen mit dem Heu für die Wildfütterung gesessen, den braunen Filzhut mit der breiten Krempe auf dem gesenkten Kopf. Hinten auf dem Wagen lag das schwarze Fahrrad, das durch den gebrochenen Rahmen seltsam verrenkt wirkte. Der Förster hatte Norbert am Waldrand neben einer verwilderten Brombeerhecke im Schnee kauernd gefunden, die erstarrten Hände um seinen geflochtenen Korb geklammert. Aus dem zerrissenen rechten Hosenbein war das blutverschmierte Knie zu sehen gewesen und neben dem zerbrochenen Fahrrad hatte der Förster merkwürdige grüne Flecke im Schnee gesehen, Reste aus der zerschlagenen Likörflasche, deren Scherben im Schnee steckten. Erst nach längerer Überredung war Norbert wortlos auf den Kutschbock gestiegen, den leeren Weidenkorb noch immer an sich gedrückt. Er war auch stumm geblieben, als sie ihn zu dem Wagen mit den roten Kreuzen geführt hatten. Den Filzhut hatte er so tief ins Gesicht gedrückt, als wolle er von niemandem erkannt werden.
Die Frauen auf dem Dorfanger versuchten Erna mit den üblichen Allerweltssätzen zu trösten. Denn im Grunde konnten sie sagen, was sie wollten, es würde nichts ändern. Erna hielt an ihrem Unglück fest, denn solange sie Mitleid mit einem hatten, geriet man nicht in Vergessenheit. Das traf auf die Lebenden genauso zu wie auf die Toten. So jedenfalls hatte es mir Gisbert erzählt, und er kannte als Arzt seine Patienten manchmal besser, als sie sich selbst.
V.
» W enn du Hechte fangen willst, fährst du am besten zum Kreuz«. Dass Gottfried der Maurer, mir das verriet, war ein Vertrauensbeweis. Er stand wieder einmal auf dem kleinen Leitergerüst – seinen kalten 25-Pfennig-Stumpen im Mundwinkel – und verputzte ein weiteres Quadrat der Südseite von meinem Haus mit Weißkalk, dabei sorgfältig um die dunklen Fachwerkbalken herum mörtelnd. Joneleit, der Traktorfahrer der Genossenschaft, den es als Halbwüchsigen aus Ostpreußen hierher geweht hatte und den ich nur nüchtern sah, wenn er hinter seinem Steuer saß, hatte zwei Tage zuvor fünf Säcke mit dem begehrten Weißkalk vor meinem Haus abgeladen.
Auf meine Frage, woher die denn kämen, und ob die niemand vermissen würde, hatte der grinsend die Schultern gezuckt und wieder einmal genuschelt: »Abgang ist allerwärts.« Damit war für ihn die Sache erledigt.
Es waren inzwischen fast zwei Jahre vergangen, seit ich in das heruntergekommene Haus am Ende des Dorfes eingezogen war. Der brüchige Fachwerkbau erhielt Stück für Stück sein altes imposantes Aussehen wieder, dank neuer Steine, Weißkalk, Farbe, Firniss und der unermüdlichen Arbeit des Maurers Gottfried. Andere Häuser im Dorf dagegen verfielen, ganz gleich, ob sie noch bewohnt waren oder schon verlassen. Denn auch sie waren ja schon hoch betagt, hatten den letzten Kaiser, den ersten Versuch einer deutschen Republik und sogar das Tausendjährige Reich nun schon einige Jahrzehnte überlebt. Die zermürbten Wände zeigten Risse, an immer mehr Stellen fiel der Putz ab, an vielen Dächern fehlten die Regenrinnen, so dass die Feuchtigkeit ungehindert ins Fundament sickern konnte. Auf dem Kuhstall wurde das Loch, das ein Sturm ins Ziegeldach gerissen hatte, immer größer. Auf die Art teilten die Häuser das Schicksal des Schlosses. Daran etwas zu ändern, hätte Geld gekostet, und das brauchten sie im Dorf für wichtigere Dinge, da waren sich alle einig.
Ich lieh mir immer häufiger einen ihrer selbstgebauten Kähne und fuhr auf den kleinen See am Waldrand zum Angeln. Wenn ich dort im Boot saß, am frühen Morgen oder auch in der Abenddämmerung, war alles weit weg: Die immer wiederkehrenden Zweifel, mit denen ich mich selbst unter Druck setzte: Würde die mir vom Intendanten zugesagte Uraufführung meines Stückes am Theater in L. stattfinden? Wie stand es um meinen Hörspieltext, der nun schon seit Monaten beim Rundfunk lag? Warum hörte ich seit einem halben Jahr nichts von der Literaturzeitschrift, die mein neues Stück unbedingt hatte abdrucken wollen? Alle diese Gedanken hatten keinen Platz in meinem Kopf, wenn ich die Angeln beobachtete. Nirgendwo sonst empfand ich solchen inneren Frieden.
Und wenn ich nach Stunden wieder ins Dorf zurückkehrte, wurde ich schon ungeduldig erwartet: Unter der alten Ulme am Dorfeingang hatten sich jedes Mal die
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