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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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worden. Sogar die Fernsehgeschichten ohne positiven Helden waren nach vielem Hin und Her ausgestrahlt worden. Und auch für mich winkten die ersten Privilegien am Horizont. Ich durfte nach West-Deutschland, West-Berlin und nach Österreich fahren.
    Warum hätte ich da die Warnzeichen, die in eine andere Richtung deuteten, überbewerten sollen? Dabei hätte mir klar sein müssen, dass ich nach meiner Entscheidung im Roten Rathaus nicht nur mit der öffentlichen Aufmerksamkeit, sondern auch mit der versteckten rechnen musste. Aber noch schien alles seinen Gang zu gehen . Und es gab ja nicht nur ausreisende Kollegen und Freunde, sondern auch solche, die bleiben wollten.
    Angélique Pilz, eine befreundete Journalistin, hatte durch meine Vermittlung ein Haus in einem Nachbardorf gekauft. Sie gehörte zu den – wie ich es nannte – Götterkindern der Republik, deren Eltern an der Spitze der Nomenklatura zu finden waren. Ihre Mutter saß in einer der oberen Etagen der Parteizentrale. Wenn Angélique darauf angesprochen wurde, erwiderte sie stets lakonisch, dass sie für ihre Mutter nicht verantwortlich sei. Sie habe genug damit zu tun, ihr eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen. Für mich hatte Angélique – die eigentlich Angelika hieß – etwas Faszinierendes. Ihr selbstbewusstes Auftreten, ihre rhetorische Gewandtheit und ihr unverblümter Anspruch stets die erste unter all den anwesenden Frauen zu sein, verschafften ihr nicht nur Freundinnen unter dem weiblichen Geschlecht, während ihr die Männer zu Füßen lagen. Ihre Feten galten als etwas Besonderes, dort trafen sich Literaten, Alleinvertreter in Sachen Deutungskompetenz, das meist westliche Feuilleton und Kunstverwalter von beiden Seiten der Mauer. Böse Zungen der Nichteingeladenen denunzierten diese Feste als den west-östlichen Jahrmarkt der literarischen Eitelkeiten . Angélique kümmerte das nicht, sie lebte nach ihren eigenen Regeln und ging mit dem, was und wie sie schrieb, unbeirrt ihren Weg, der sie – was nicht überraschend war – erst einmal ins staatliche Abseits führte. Ich bewunderte sie im Stillen. Angst schien ein Wort zu sein, das in ihrem Sprachschatz nicht vorkam. Meine eigene Ängstlichkeit versuchte ich damit zu entschuldigen, dass Angélique ja nichts passieren konnte, als Götterkind würde sie sogar nach einer Kreuzigung wieder auferstehen. Später, nach der Veröffentlichung ihres ersten Buches in einem West-Verlag, hatte man sie – trotz der Mutter von weit oben – dennoch ans Kreuz geschlagen und ihre Auferstehung fand erst statt, nachdem auch sie in den Westen gegangen war. Aber daran hatte in dem Jahr, in dem sie das Haus kaufte, noch niemand gedacht. Angélique besuchte mich hin und wieder in meinem Dorf, und es gab einen scherzhaften Wettbewerb zwischen uns: Während mein Landhaus doppelt so groß war wie das ihre, lag ihr kleines Bauernhaus direkt an einem See.
    Es gab noch etwas, um das ich sie beneidete: Sie war trinkfester. Eines Abends hatten wir uns in der Kneipe die Köpfe heiß geredet, zwei Flaschen Rotwein standen schon leer am Boden und eine dritte halbvoll vor uns auf dem Tisch. Es ging um die Vierteldissidenten , wie Angélique sie nannte, jene Schriftsteller- und Theaterkollegen, die immer genau wussten, wie weit sie gehen konnten, um im Westen Aufmerksamkeit zu erregen und im eigenen Land dennoch nicht in Ungnade zu fallen. Diese Rückversicherer seien ihr suspekter als die sozialistischen Traumdeuter, entschied sie wütend. Obwohl es einige gab, auf die diese Beschreibung zutraf, wusste ich, es konnte nur Stefan Schwenke sein, den sie da im Auge hatte. Er war einer derjenigen, der niemals zu Angéliques Feten eingeladen wurde. Und um mich zu provozieren, fügte sie hinzu: »Bist du mit solchen Typen nicht befreundet, du weißt schon, welche ich meine?«
    Natürlich kannte ich den Adressaten. Schwenke hatte fast zur selben Zeit wie ich mit dem Schreiben begonnen. Er besaß allerdings die beneidenswerte Fähigkeit, sich immer im Dunstkreis prominenter Kollegen zu bewegen. Ein devoter Jünger der literarischen Olympier, mit deren Hilfe er eifrig an seiner Karriereleiter bastelte. Angélique mochte ihn nicht, sie war der Meinung, dass das, was er schrieb, nur geschickt zusammengeklaut war. Nebeltexte hießen sie bei ihr, sie konnten alles und nichts bedeuten.
    »Der Typ wittert doch wie ´n Trüffelschwein überall seinen Vorteil.«
    Ich sah sie mit schon etwas glasigen Augen an und erwiderte nichts, das

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