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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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für den Export bestimmt war, und begann die Fensterrahmen im Erdgeschoss zu streichen. Allerdings war ich nicht recht bei der Sache, denn ich erwartete an diesem Nachmittag Besuch. Die alte Oma Handel hatte sich angemeldet. Gehört hatte ich schon einiges von ihr, aber wenn ich ihr im Dorf begegnete, grüßte sie eher scheu, als fürchtete sie, ich könnte sie ansprechen.
    Was die alte Handel, die die achtzig längst überschritten hatte, machte, war diesem Staat suspekt. Für ihn existierte Gott offiziell nicht, und für alles hatte es eine rationale Erklärung zu geben. Im Dorf nannten sie alle nur Oma Handel, obwohl sie nie ein Enkelkind gehabt hatte. Es hatte wohl nicht sein sollen, sagten sie im Dorf, ihr einziger Sohn war im Krieg gefallen, als sie noch die Frau des Zimmermanns gewesen war. Aber Kräutertränke konnte sie schon immer zubereiten, wenn einen die Gicht plagte oder es ein Kind auf der Brust hatte. Und sie konnte hartnäckige Hautflechten besprechen und die Gürtelrose wegpusten . Es war auch heute noch gut, jemanden wie Oma Handel im Dorf zu haben, zu der man gehen konnte, wenn der Doktor im Nachbarort mit seinem medizinischen Latein am Ende war. Sie war zuständig für die Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen sich die wissenschaftliche Schulweisheit auch im neuen Staat nichts träumen ließ. Darin waren sich alle einig und auch darüber, dass es schon in Ordnung war, wenn sie für ihre Heilungen ein Dutzend Eier, ein Suppenhuhn oder ein Stück Schinkenspeck bekam, je nach der Schwere des Behandlungsfalls.
    »Geld nimmt sie nicht«, hatte Wolfgang, der Kneipenwirt zu mir gesagt, »daraus könnten sie ihr vielleicht einen Strick drehen, wenn ihr Hokuspokus mal nicht hilft.« Er nannte es Hokuspokus, obwohl die Alte erst vor ein paar Wochen seinem zehn Monate alten Sohn damit sehr erfolgreich geholfen hatte.
    Seine junge Frau hatte einen Kessel mit kochendem Wasser vom Herd genommen, war gestolpert und hatte den brodelnden Inhalt über Bauch und Beine des nackten Säuglings verschüttet. In ihrer Verzweiflung war sie mit dem verbrühten schreienden Kind zu Oma Handel gelaufen, die sich sofort der Verbrennungen annahm. Was sie genau getan hatte, wusste niemand zu sagen, nicht einmal die aufgeregte Mutter des Säuglings. Aber geholfen hatte es.
    »So, als sei nie etwas passiert, es war wie ein Wunder«, hatte die überglückliche Mutter der Postfrau erzählt, und damit wusste es einen Tag später das ganze Dorf. Ich hatte mich gefragt, wie der ungläubige Wirt die alte Handel für dieses Wunder, das er ja spöttisch Hokuspokus nannte, wohl entlohnt hatte.
    Vor zwei Tagen hatte sie mich überraschend auf der Dorfstraße angesprochen und nun saß die Wundertäterin vor mir in dem ehemals gräflichen Korbsessel in meinem halbrenovierten Haus, in dem es nach frischer Exportfarbe roch. Sie hatte den Wein, den ich ihr angeboten hatte, mit dem Anflug eines Lächelns abgelehnt und hielt nun in ihren schlanken feingliedrigen Händen nur ein Glas mit Mineralwasser, an dem sie vorsichtig nippte. Sie war ganz in mattglänzendes Schwarz gekleidet, der weitfallende Rock endete kurz über den derbledernen Schnürschuhen, die Bluse wurde von einer Leiste mit unzähligen stoffbezogenen schwarzen Knöpfen geschlossen. Ihr dichtes, weißes Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden. Ihr Gesicht zeigte um die Augen herum nur einige wenige Falten. Und trotz ihres hohen Alters trug sie keine Brille. Also sah sie mich mit ihren lichtblauen Augen ohne gläserne Vergrößerung an und sagte, mit einem raschen Blick das helle, sonnendurchflutete Zimmer umfassend: »Schön haben Sie´s hier.«
    Am liebsten hätte ich das Lob verlegen durch einen Einwand relativiert, etwa, dass das Haus ja erst halb fertig sei und noch vieles zu tun bleibe, aber aus einem mir unerklärlichen Grund nickte ich nur zustimmend und wartete auf das, weshalb sie heute wirklich zu mir gekommen war. Als sie mich auf der Straße angesprochen und mich gefragt hatte, ob sie etwas mit mir bereden könne, hatte ich vermutet, dass sie von mir dem Stadtmenschen einen Rat haben wollte. Sie stellte das Wasserglas vorsichtig auf den hölzernen Fußboden, legte ihre gefalteten Hände in den Schoß und begann zögernd: »Sie haben im Dorf sicher schon gehört, was ich mache.« Ich nickte gespannt: »Ja, das mit dem verbrühten kleinen Sohn vom Wirt.« Sie wiegte ihren Kopf lächelnd hin und her: »Es ist nicht nur das. Ich meine auch die anderen Sachen.«
    Ich

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