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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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hatte erfahren, dass es an der Freien Universität im Westen Berlins die Literatur gab, die ich für meine Recherchen benötigte.
    Denn obwohl die Republik, in der ich lebte, oft den Eindruck vermitteln wollte, die revolutionäre Wiege aller Deutschen zu sein, suchte ich innerhalb der Grenzen dieses Landes vergeblich nach Veröffentlichungen über den linken, sozialdemokratischen Politiker. Die einzigen Aufzeichnungen, hatte man mir mitgeteilt, lägen im zentralen Parteiarchiv und wären für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Notate zu einer Revolution im heutigen Westen Deutschlands als Geheime Verschlusssache. Machtpolitik folgte ihrer eigenen Logik, das hatte schließlich schon Kurt Eisner zu spüren bekommen. Mir verschaffte die politische Einäugigkeit Gelegenheit, nach fast zwei Jahrzehnten auch wieder Theater auf der anderen Seite Berlins zu sehen, und ich konnte Caroline besuchen, die immer noch bei ihren Eltern wohnte. Ich hatte sie vor einigen Jahren an der bulgarischen Schwarzmeerküste kennen gelernt, sie war zehn Jahre jünger als ich, studierte Jura, ihr Vater war beim Senat und ihre Mutter führte den Haushalt. Die Familie bewohnte eine Gründerzeitvilla in einem Nobelviertel West-Berlins. Caroline hatte mich einige Male besucht und war einmal sogar nach Hohenfeld gekommen, wo für sie alles wie in einem alten Film aussah. Mein Leben zwischen meiner Eineinhalbzimmerwohnung in der Stadt und einem großräumigen Landhaus musste für sie ziemlich bizarr wirken. Ihr Leben war geordneter, aber dafür auch unglaublich langweilig, wie sie mir einmal gestanden hatte.
    Inzwischen arbeitete Caroline in einer Anwaltskanzlei. Den Job hatte ihr Vater ihr über Beziehungen verschafft, und der Juniorchef der Kanzlei hatte sich vehement für die Anstellung der jungen attraktiven Juristin eingesetzt.
    Wie benommen war ich auf jenem für mich sonst verbotenen Bahnsteig Berlin-Friedrichstrasse – dieser Schnittstelle zwischen Ost und West – in die U-Bahn eingestiegen, die eigentlich für mich nicht mehr fuhr. Das Ganze erschien mir unwirklich, wie die Fahrt mit einer Geisterbahn. Der Zug raste unter der Erde durch jenen Teil der Stadt, den ich gut kannte; nur an den toten Bahnhöfen, die hier unten absurderweise sogar noch ihre Namen hatten, verlangsamte er seine Fahrt. Die Eingänge über der Erde waren schon seit langem durch verrostete Eisengitter versperrt worden, allesamt namenlos. Nichtnennung fördert das Vergessen.
    Die anderen Fahrgäste, die sich deutsch oder türkisch unterhielten, Bücher oder Zeitungen lasen, schien das Ganze nicht mehr zu interessieren. Das Absurde war für sie längst zur Normalität geworden. Und wir, dachte ich, die wir in dieser halben Stadt über der Erde wohnen, haben wir nicht auch gelernt mit diesem Riss, der Straßen zerschnitt und Flüsse teilte, zu leben?
    Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist … Die Operette als Geschichtslektion.
    Endlich hatte der Zug wieder gehalten. Auf einem hell beleuchteten Bahnsteig hatte ich grellbunte Reklametafeln entdeckt, die dazu aufforderten, das zu kaufen, was es auf der anderen Seite der Mauer gar nicht gab. Ich hatte den Zug verlassen und war die Treppe hinauf ans Tageslicht gestiegen. Zwischen dem Bahnhof mit der doppelten Passkontrolle und der Straße hier lagen nicht mehr als vier Kilometer Luftlinie, dazu in derselben Stadt und dennoch schien ich mich hier in einer anderen Welt zu befinden. Sogar der Geruch unterschied sich von dem in der Hauptstadt, stellte ich erstaunt fest. Langsam wurde es mir bewusst, dass ich wirklich drüben war, nach fast zwei Jahrzehnten. Der einzige, dem ich in Hohenfeld von meinem Ausflug über die Mauer erzählt hatte, war Gottfried der Maurer gewesen, und der hatte als Kommentar nur gebrummt: »Du wirst doch hoffentlich wieder zurückfinden…?« Ich hatte gelacht, die Schultern gezuckt und »Wer weiß, mal seh´n…«, gesagt. Nein, durch die Hintertür zu verschwinden, würde für mich nicht infragekommen, und außerdem hatte ich auch gar keinen Grund dazu, dachte ich.
    Caroline hatte mich stürmisch umarmt, als ich in der kunstvoll gedrechselten Tür zur Villa der Familie stand und immer wieder gesagt: »Das kann nicht wahr sein! Du bist wirklich hier! Das ist echt irre!« Sie tat so, als würde ich dieses Haus nie wieder verlassen, als wäre ich am Ziel all meiner Wünsche angelangt.
    Carolines Mutter war froh, dass jemand ihre Tochter ausführte, und sie hatte auch gleich

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