Abgang ist allerwärts
sah sie fragend an und wusste noch immer nicht, worauf sie hinauswollte. Hatte sie jemand angeschwärzt und sie hoffte nun, ich könne ihr eine wirksame Verteidigungstaktik verraten? Etwas, das zwischen Himmel und Erde doch auf dem Mist der Schulweisheit gewachsen war? Nein, es war etwas ganz anderes und ich schämte mich etwas für meine städtische Überheblichkeit.
»Was ich mache, habe ich vor über sechzig Jahren von meinem Großvater gelernt, und ich würde es gerne weitergeben, denn in meinem Alter wartet der Tod nicht mehr lange. Nicht, dass ich Angst vor dem Sterben hätte, aber es wäre doch schade, wenn all das, womit ich den Leuten helfen konnte, verloren gehen würde.« Wieder sah sie mich aufmerksam mit ihren hellen Augen an.
»Aber es gibt doch dafür sicher eine geeignete junge Frau im Dorf«, wandte ich ein. Die alte Handel schüttelte den Kopf: »Ich muss es wieder an einen Mann weitergeben, so ist die Regel und die jungen Männer im Dorf wollen damit nichts zu tun haben.«
Endlich begriff ich, was sie von mir erwartete. »Sie haben doch nicht etwa an mich gedacht?«, fragte ich, um sicher zu gehen. Sie nickte ernsthaft und blickte mich erwartungsvoll an.
»Aber warum ich?«, fragte ich, noch immer ungläubig. Sie hob den Kopf und sah mir lange ins Gesicht, dann sagte sie mit leiser Stimme: »Es sind Ihre Augen, Sie haben gütige Augen«.
Dieser einfache Satz berührte etwas in meinem tiefsten Inneren und ich spürte wie mein Kopf glühte. Es herrschte Stille in dem fast leeren Zimmer an diesem sonnigen Nachmittag. Schließlich räusperte ich mich und begann unsicher: »Ich weiß Ihr Vertrauen wirklich zu schätzen, aber ich kann das nicht annehmen, Oma Handel, ich glaube doch an diese Sachen nicht.« Ich wusste, dass es nicht überzeugend klang, weil es im Grunde nicht die Wahrheit war. Die wahren Gründe ihr Angebot abzulehnen, lagen woanders.
Eines Tages vielleicht die Fähigkeit zu haben, etwas tun zu können, das sich jeder rationalen Kontrolle entzog, flößte mir Unbehagen ein. Und wenn Freunde und Kollegen in der Stadt davon erfahren würden, die so wenig wie der Wirt an solchen Hokuspokus glaubten, würde ich wahrscheinlich bald als Spinner abgestempelt werden; als einer, den man mit Nachsicht behandeln muss, aber im Grunde nicht ernst nimmt. In meinem Kopf türmten sich die Gedanken übereinander, als ich nach weiteren Begründungen für meine ablehnende Antwort suchte.
»Ich verstehe«, sagte die alte Frau, die leicht gebeugt vor mir saß und ich meinte in ihrer Stimme Enttäuschung und sogar Traurigkeit zu hören. »Ja, ich verstehe Sie, ich hatte am Anfang auch Angst davor. Und vielleicht kann ich es von Ihnen auch nicht verlangen, sie leben da in der Stadt ganz anders. Was geht Sie die Spökenkiekerei einer alten Frau an.«
Wieder stieg mir das Blut in den Kopf, denn ich fühlte mich ertappt: Alle meine so plausiblen Erklärungen und Ausflüchte ließen sich auf einen einfachen Satz reduzieren: Ich hatte Angst.
Und weil die alte weise Frau das erkannt hatte, baute sie mir eine Brücke. Ich war ihr dankbar dafür und fühlte mich erleichtert. Sie stand auf, strich sich die Röcke glatt, reichte mir die Hand, die trotz ihres hohen Alters von einer auffälligen Zartheit war und bedankte sich dafür, dass ich Zeit für sie gehabt hatte. Ich stotterte irgendeine höfliche Floskel und begleitete sie zur Tür.
Lange sah ich ihr nach, wie sie mit festen kleinen Schritten die Dorfstraße entlang ging, die die tiefstehende Nachmittagssonne in ein leuchtendrotes Licht getaucht hatte, bis ihre
schmale Gestalt im Schatten der kleinen Kirche verschwand.
Im Grunde wusste ich bereits, dass ich es eines Tages bereuen würde, mich heute so entschieden zu haben.
Wenige Monate später war die alte Handel tot und all ihr geheimes Wissen wurde mit ihr auf dem kleinen Friedhof neben der Dorfkirche begraben.
VIII.
N ach achtzehn Jahren fuhr ich das erste Mal wieder in den Westteil Berlins, ins nichtsozialistische Ausland , die besondere politische Einheit Westberlin , wie es im verquasten offiziellen Sprachgebrauch von östlicher Seite hieß. Ich wollte ein Stück über Kurt Eisner schreiben, den linken Schriftsteller, der Jude gewesen und aus Preußen gekommen war und dennoch für einige Monate als Ministerpräsident der demokratischen und sozialen Republik Bayern in München regiert hatte, bis sein idealistischer Traum an der Machtpolitik der Hinterzimmer und am Antisemitismus zerbrach. Ich
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