Abgang ist allerwärts
Vorschläge in welches Konzert, welche Opernaufführung, welche Ausstellung wir unbedingt gehen müssten. Über die Eintrittsgelder solle ich mir keine Sorgen machen. Caroline spürte, dass mich dieser Überfall in Sachen Kultur irritierte und sie entschuldigte sich für den Übereifer ihrer Mutter. Am Abend hatten wir dann Joachim in seinem Theater getroffen, er war der Direktor einer der größten weltweit geschätzten Schauspielbühnen West-Berlins.
Ich hatte ihn vor Jahren im Ostteil der Stadt über eine Kollegin kennen gelernt, und wir hatten auf Anhieb einen Draht zueinander. Danach waren wir gelegentlich in meinem Teil Berlins gemeinsam in eines der Theater der ehemaligen Mitte gegangen, um uns einige der Inszenierungen anzusehen, die auch jenseits der kleindeutschen Nischen Beachtung fanden.
Joachim gab mir zwei Karten für die Aufführung des Abends, es war die Premiere: »Jetzt kannst du endlich mal sehen, wie Theater auf unserer Seite aussieht. Und keine Angst, sie sprechen auch hier auf der Bühne deutsch«, fügte er blödelnd hinzu.
Wir verabredeten uns nach der Vorstellung beim Italiener in der Nachbarschaft. Während unseres kurzen Gesprächs hatte Joachim immer wieder Caroline angestarrt, als wäre sie ein Model auf dem Laufsteg, und ich wusste im Grunde, was er mich bei unserem nächsten Treffen fragen würde.
Ich war von der Inszenierung, den Schauspielern und dem Bühnenbild begeistert, vom Publikum weniger, das nach kurzem Applaus das Theater fluchtartig verlassen hatte, wahrscheinlich – so vermutete ich – auf dem Weg zu den reservierten Tischen eines der zahlreichen Szenerestaurants, um dort mit dem guten Gefühl dabei gewesen zu sein zwischen Côtes du Rhone und Lammcarées ein alleingültiges Urteil über den Theaterabend zu fällen. Schließlich wähnte sich jeder Einzelne im Besitz des Monopols auf Deutungskompetenz. Auch das Salute war ein solcher Treffpunkt und ich sagte knurrend zu Caroline, ich würde Restaurants hassen, in denen die Kellner vornehmer seien als die Gäste.
Aber dann erschien Joachim und ich besann mich wieder auf die wirklich beeindruckende Aufführung. Wenn es ein Theater auf dieser Seite Berlins gibt, in dem ich gern einmal auf der Bühne stehen würde, dann wäre es Joachims, schwärmte ich und er nahm das Kompliment lächelnd entgegen. Dann stellte er mir einen Mann im abgewetzten Trenchcoat vor, der mit ihm in das Restaurant gekommen war.
»Pierre Dresser, ein Kollege von dir, aber auf dem Gebiet der Prosa unterwegs. Ich dachte, ihr solltet euch mal kennenlernen. Und das ist Elias Effert, ein Theaterbesessener, ich hab dir schon von ihm erzählt.«
Dresser war etwa in meinem Alter, mittelblond, mit wasserblauen Augen, mit denen er Caroline neugierig musterte.
»Caroline, eine Freundin von dieser Seite der Mauer«, beeilte ich mich sie vorzustellen, und Dresser gab ihr und dann auch mir die Hand.
»Ich bin Pierre«, sagte er, um von vornherein klarzustellen, dass er von Förmlichkeiten nichts hielt. Ich nickte zustimmend: »Ich bin Elias.«
Joachim bestellte eine Flasche Rotwein und wenige Minuten später waren wir mitten in einem Gespräch über die heutige Premiere und ich machte noch einmal meinem Ärger über das ignorante, bescheuerte Publikum Luft. Pierre stimmte mir uneingeschränkt zu und dann kam, was kommen musste, Dresser wollte wissen, was denn da vor kurzem im Roten Rathaus, in Ost-Berlin los gewesen war. Anfangs war ich etwas vorsichtig, denn ich wusste, dass auch in West-Berlin überall Ohren des Geheimdienstes der realsozialistischen Hauptstadt saßen.
Wohlmeinende Freunde hatten mich davor gewarnt.
Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser Pierre mit dem leicht süddeutschen Klang in der Stimme, der mir aufmerksam und offen ins Gesicht sah, mich im Auftrag der anderen Seite aushorchen wollte. Soweit ist es also schon gekommen, dachte ich wütend. Selbst, wenn sie dich von der Leine lassen, sollst du ihre Anwesenheit überall vermuten. Misstraue deinem Nächsten, wie dir selbst.
Joachim, Pierre und Caroline sahen mich an, weil ich stumm vor mich hingestarrt hatte. Und dann hatte ich mich entschlossen, allen Ängsten und Zweifeln zum Trotz, auf Pierres Frage zu antworten.
»Im Vergleich zu heute Abend«, begann ich, » war diese Inszenierung da im Roten Rathaus halb Tragödie, halb Schmierenkomödie, allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Publikum gab es nicht, denn wir spielten alle mit, ob wir wollten oder
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