Abgang ist allerwärts
jetzt auf dem Klo sitzt«, sagte Kienast lachend. »Er hat eben zu schwache Nerven.« Die Kapelle spielte Es war einmal ein treuer Husar , und alle im Saal sangen mit.
Kanzog war kurz darauf mit kalkweißem Gesicht an seinen Platz zurückgekehrt und wischte sich unaufhörlich den Schweiß von der Stirn. Im Saal herrschte lärmende Fröhlichkeit, nur am Tisch mit dem Gutsdirektor steckten die Kreisfunktionäre die Köpfe zusammen. Aber auch von dort war von Zeit zu Zeit das dröhnende Lachen des Bürgermeisters zu hören.
Als man im Saal Wenn das Wasser im Rhein sang, tanzte alles im Gasthof unweit der Oder. Dann rief ein dreifacher Tusch Kanzog auf die Bühne. Beifall begleitete ihn, als er mit seiner Narrenkappe in seinem rot-grünen Kostüm zum Rednerpult lief. Er begann mit etwas belegter Stimme, wurde dann immer sicherer und bald sprach er, ohne noch auf das Papier zu blicken. Die Verse hatte er wochenlang geübt, wie er mir gestanden hatte.
Kanzog hatte das Ganze geschickt aufgezogen: Unter dem Vorwand närrisch zu sein, nannte er – oft mit ausgeklügelten Wortspielereien – die Dinge beim Namen, die faul waren in dem kleinen Ort, dabei verhedderte er sich manchmal scheinbar zufällig, um das eine oder andere noch einmal wiederholen zu können.
Die Fragen, die der Narr mit der Schellenkappe an den »Hohen Rat der Stadt« richtete, wurden von den Zuhörern laut und beifällig kommentiert. Bald wurde auch während seines Vortrags nach fast jedem Satz applaudiert. Anfangs hatte auch der Bürgermeister noch über die Narreteien gelacht. Als der selbsternannte Eulenspiegel den Anwesenden aber erklärte, dass im Rathaus niemand klebrige oder schmutzige Hände hätte, weil auf Hygiene großer Wert gelegt würde, denn es herrsche das Prinzip: Eine Hand wäscht die andere, da war das Lachen auf dem Gesicht des Bürgermeisters gefroren. Ich hatte beobachtet, dass der stellvertretende Kreisparteisekretär einiges auf einem Bierdeckel notierte und der Funktionär vom Rat des Kreises dem Gutsdirektor einen bedeutsamen Blick zuwarf. Dann beugte er sich zum Bürgermeister und flüsterte ihm etwas zu, worauf der die Achseln zuckte und unsicher lachte.
Kanzog war mit seiner Rede am Ende, und das Publikum quittierte sie mit rasendem Beifall, Pfiffe, Bravorufe und Füßetrampeln. Der Deutschlehrer mit der Schellenkappe verbeugte sich einige Male und blickte immer wieder zum Tisch des Bürgermeisters.
Ich sah wie der Gutsdirektor den Saal verließ, gefolgt von den beiden Kreisfunktionären. Kanzog war an unseren Tisch zurückgekehrt und jubelnd begrüßt worden. Sein buntes Narrenkostüm klebte schweißnass an seinem Körper. Die beiden Büttenreden, fand Kienast, seien zweifellos der Höhepunkt des Abends. Alle waren in Hochstimmung, Schliemann hatte Sekt bestellt und Kanzog sichtlich erleichtert den Glückwunsch seines Schuldirektors entgegengenommen. Und bei der Damenwahl hatte sogar die Frau des Bürgermeisters Kanzog zum Tanz aufgefordert.
Die Sache schien allerdings noch nicht zu Ende zu sein. Ich hatte gesehen, dass ein Mann mittleren Alters mit kahl geschorenem Kopf und enormem Bierbauch sich an den Tisch des Bürgermeisters setzte, der sich sofort intensiv mit ihm unterhielt. Kienast hatte bemerkt, dass ich die beiden beobachtete.
»Der Vogt und sein Harras«, flüsterte er mir zu »Der Kahlkopf ist unsere Polizeigewalt hier im Ministädtchen, Hauptwachtmeister Breihahn. Der Mann hat zwar kurze Haare, dafür aber lange Finger, wird gemunkelt. Einige Säcke mit Futtergetreide, die aus dem Vorratsschuppen der Genossenschaft verschwunden waren, sind in seinem privaten Schweinestall wieder aufgetaucht. Hokuspokus Fidibus. Eine Saatkrähe hackt aber der anderen kein Auge aus, also haben Bürgermeister und Gutsdirektor die ganze Chose unter den großen roten Teppich gekehrt.«
Ich erinnerte mich, dass Schliemann heute Abend in seiner Trauerrede eine Anspielung auf das Wunder im Schweinestall des Genossen Polizisten gemacht hatte. Ich war erstaunt gewesen, dass Kienast so offen zu mir gesprochen hatte. Hatte er von Gisbert vielleicht doch eine Andeutung auf meine Ausreiseabsicht erhalten? Oder hatte Kienast mir angesehen, wie ich über die Leute am Tisch des Bürgermeisters dachte? Der Abend ging feuchtfröhlich weiter und alle im Saal amüsierten sich prächtig. Nur die zwei Kreisfunktionäre und Breihahn waren vorzeitig gegangen, wovon außer mir aber nur wenige Notiz zu nehmen schienen. Lange nach Mitternacht
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