Abgang ist allerwärts
die Schultern.
»Ich weiß es nicht. In einer Woche, einem Monat, einem Jahr…«
Rudi schüttelte verständnislos den Kopf: »Die alte Reimann, du weißt schon, der mal das Gärtnerhaus gehörte, die is zu ihrem katholischen Bruder nach Köln gezogen. Das ging ruck zuck. Von der Oder an den Rhein. Na ja, besser als hier in dem alten Hühnerstall wird´s ihr da schon gehen. Und du, wo willst du hin?«
»Ich habe keine Ahnung.« Rudi seufzte und sah aus dem Fenster.
»Das schöne Haus, die ganze Arbeit und das Geld, was da drin steckt.«
»Wollt ihr es haben? Euch würde ich´s geben, mit allem drum und dran.«
Rudi sah mich entgeistert an, dann wechselte er einen raschen Blick mit Agnes und machte eine abwehrende Handbewegung.
»Nee, nee, lass mal gut sein. Das is dein Haus und bleibt dein Haus. Das würden sie mir im Dorf übel ankreiden, wenn ich da einziehen würde.«
»Dann wird es wieder leer stehen und still vor sich hin sterben. Na ja, das ist dann auch nicht zu ändern.«
Ich spürte, dass ich drauf und dran war, sentimental zu werden, also stand ich abrupt auf, um das Thema zu beenden. Aber Rudi schien das Ganze immer noch im Kopf herum zu gehen.
»Is schon verrückt: Auf der einen Seite wünsche ich dir, dass du nich mehr so lange warten musst, auf der anderen Seite…« Er brachte den Satz nicht zuende, und ich verabschiedete mich beinahe fluchtartig mit einem kurzen: »Danke für alles.« Dabei fühlte ich mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut.
Im Haus zündete ich ein paar Kerzen an und stellte sie auf die Fensterbretter, dann öffnete ich eine Flasche Rotwein von meinem kleinen Vorrat aus der Hauptstadt und setzte mich in das vordere Zimmer in den kunstvoll geflochtenen Korbsessel an das Fenster, von dem aus ich die Dorfstraße sehen konnte und den riesigen Schatten des Schlosses. Ich dachte immer wieder darüber nach, was Rudi mir gesagt hatte. Wie hätte ich ihm klarmachen können, warum ich gehen wollte? Wie hätte sich das angehört, ihm gegenüber, der jeden Morgen um fünf Uhr früh im Stall stand und abends vor dem Fernseher einschlief, von Freiheit zu sprechen, von Zensur, offenen und versteckten Verboten, Bevormundung, vorauseilendem Gehorsam, mangelndem Mut, auch meinem eigenen. Und wie hätte ich Rudi erklären sollen, der einmal im Leben auf Rügen und einmal in Thüringen gewesen war, und sonst höchstens in die Kreisstadt fuhr, dass mir die vom Staat genehmigten sozialistischen Orte diesseits und jenseits der Grenzen als Reiseziele nicht ausreichten? Ihn und sicher auch alle anderen im Dorf erinnerte das Verhalten der verhätschelten Künstler an das Märchen vom Fischer und seiner Frau . Und wenn ich mich in ihre Lage versetzte, konnte ich sie dann nicht verstehen?
XXV.
I ch fing wieder an zu schreiben. Dialoge und Texte in Reimen. Alle drückten auf die eine oder andere Art Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl des Verlassenseins aus. Ich schrieb gegen die immer häufiger auftretenden Depressionen an:
Jetzt sitz ich wirklich zwischen allen Stühlen
und totgeschwiegen auf dem nackten Grund.
Wer hier nicht hören will, muss fühlen,
wer seinen Brei nicht isst, kommt auf den Hund.
Auf einen Widerruf dürft ihr nicht hoffen,
auch nicht auf kalte Käuflichkeit.
Ich seh mich lieber so betroffen,
als blind und taub schon vor der Zeit.
Denn wenn vor einem mir schon immer graut,
dann vor den Spuren jener Auserwählten,
die sich so weit vom eignen Grund entfernten,
die Mär vom Suppenkasper eifrig lernten,
an allen Tisch sitzend, wo man kaut.
Wo sie sich jedermann sogleich vermählten,
schon nichts mehr spürend unter ihrer Haut.
An manchen Tagen schrieb ich wie besessen, obwohl ich nicht wusste, ob die Texte jemals an die Öffentlichkeit kommen würden. Durch die Verse und die Dialoge meiner Figuren konnte ich ausdrücken, was ich fühlte und auf die Art auch die mir verordnete Sprachlosigkeit unterlaufen. Die Büttenreden am ersten der drei tollen Karnevalstage würden im Nachbarort auf ihre Weise die landläufige Sprachlosigkeit aufkündigen und sogar eine – wenn auch bescheidene – Öffentlichkeit haben.
Kanzog, der Deutschlehrer, hatte mich eines Tages mit dem Lokalredakteur Kienast in meinem Haus besucht. Er wollte mir die Einladung zum großen Ereignis , wie er es nannte, persönlich überreichen und Kienast hatte gespöttelt, dass der Doktor dem Büttenredner Kanzog Schlaftabletten verschrieben hätte, weil der schon Wochen vor seinem Auftritt nicht mehr
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