Abgebrezelt
Und was meinst du mit Matschauge?«
»Na, den Botox-Unfall, den ich im Gesicht habe!«
»Botox auch?« Julia ist entsetzt. »Echt, Jessica, du übertreibst doch total, und sei mir nicht böse, aber ich finde nicht, dass du jetzt besser aussiehst als vorher.«
Ich bin kurz vorm Durchdrehen.
»Julia bitte, jetzt mal ehrlich, was siehst du in meinem Gesicht?« Sie guckt mich ein paar Sekunden lang kritisch an.
»Deine Haut ist relativ unrein, das ist ungewöhnlich, du hast wie gesagt vollere Lippen und trägst weniger Make-up als sonst, was ich ganz schön finde, aber sonst … «
Also entweder ich bin verrückt oder Julia. Vielleicht hat ja irgendjemand mitbekommen, dass ich ein Matschauge hab, und allen gesagt, sie sollen mich bloß nicht darauf ansprechen? Oder die haben sich abgesprochen, um mich fertig zu machen!
»Und meine Augen, was ist mit meinen Augen? Du bist meine Freundin, ich erwarte, dass du ehrlich bist, egal was man dir gesagt hat.«
»Meinst du vielleicht, dass du heute keinen Eyeliner und keinen Lidschatten aufgetragen hast?«
»Das mein ich nicht!« Ich stehe kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Kein Mascara?«
»Nein!« Meine Stimme droht zu kippen.
»Ich weiß nicht, was du meinst, Jessi. Was soll mit deinen Augen sonst sein? Und wer soll um Himmels willen mit mir über was geredet haben?«
»Das gibt’s doch echt nicht … los, komm mit!« Ich nehme Julia am Arm und zerre sie zu den Waschräumen auf der anderen Seite des Flurs. Dann müssen wir es eben so machen.
»Jessi, was soll das denn? Bist du jetzt vollkommen wahnsinnig geworden?«
Ich stelle sie vor einen der vier Spiegel im Waschraum und mich daneben. Ich will gerade auf mein Matschauge deuten, doch es ist keines mehr da. Das Augenlid meines rechten Auges sieht genauso aus wie das Augenlid meines linken Auges. Kein Matschauge mehr. Weg. Einfach so. Weg. Ich kann es nicht glauben. Vielleicht ist es ja eine optische Täuschung?!? Ich gehe vor den anderen Spiegel, aber auch in diesem kann ich kein Matschauge entdecken. Ich stürze zum nächsten Spiegel. Das Matschauge ist weg! Und auch die Lippe ist nicht mehr so aufgepumpt wie heute Morgen, sie sieht fast gut aus!
»Alles in Ordnung, Jessi?«
Julia steht immer noch vor dem ersten Spiegel und guckt zu mir rüber. Sie spricht ganz leise. Ich lehne mich an eine gekachelte Wand, rutsche an ihr hinunter, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und fange an zu heulen.
NEUNUNDZWANZIG Sugarbaby
Es dauert einige Zeit, bis ich so einigermaßen realisiert habe, was passiert ist. Nachdem ich Julia die ganze Geschichte in allen schrecklichen Einzelheiten erzählt habe und sie sich fürchterliche Vorwürfe gemacht hat, dass sie nicht für mich da sein konnte, fahre ich in die siebte Etage des Gebäudes und setze mich für ein paar Minuten auf die für Mitarbeiter eigentlich verbotene Dachterrasse. Neben der Toilette ist das der einzige Ort in diesem Haus, an dem man allein sein kann. Ich schaue ein paar Minuten über Köln, sehe die beiden imposanten Domspitzen aus dem Einheitsgrau der Großstadt ragen und vergieße ein paar Freudentränen. Endlich kann ich wieder ein normales Leben führen. Das alles wieder so wird wie es war, wage ich allerdings zu bezweifeln, dafür ist einfach zu viel passiert.
Als ich mich ein bisschen beruhigt habe, gehe ich zurück in mein Büro, natürlich nicht ohne mich in jedem Spiegel und in jeder Glasscheibe zu vergewissern, dass ich tatsächlich nicht mehr aussehe wie ein Zyklop. Kurz nachdem ich wieder an meinem Platz im Büro sitze, platzt auch schon mein Chef ins Aquarium.
»Wann denken Sie, sind Sie mit den Akten durch?«, blafft er mich schlecht gelaunt an, baut sich vor meinem Schreibtisch auf und stemmt die Arme in die Seiten.
»Ob es mir wieder bessergeht, wollen Sie wissen? Ja, vielen Dank der Nachfrage. Sehr viel besser!«, antworte ich ihm gut gelaunt.
»Davon bin ich ausgegangen, schließlich waren Sie ja lang genug krank geschrieben!«
»Ich finde, Sie sehen gut aus, Herr Rademann! Waren Sie im Urlaub?«
»Nein! Und das steht jetzt auch gar nicht zur Debatte!« Mein Kompliment ist ihm sichtlich unangenehm, »Und sehen Sie zu, dass Sie das ganze Zeug, das in den letzten zwei Wochen angefallen ist, aufarbeiten. Und wenn Sie damit fertig sind, kommen Sie bitte in mein Büro!«
Mit diesen Worten dreht er sich um und rauscht aus dem Zimmer, wie ein Pitbull, der auf dem Flur ein kleines hinkendes Häschen gesehen hat.
»Sehr gerne, Herr
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