Abgehauen
was ich nie zu sagen gewagt hätte, und jedermann kennt meine Stimme und weiß, daß sie mir gehört und daß sie zu mir gehört, was also nütze ich dem Schauspieler Popescu? Das wäre, als wenn mich in Amerika Jack Nicholson synchronisiert. Die Leute würden im Kino sitzen und sich fragen, was die Visage von dem Fremden da hinter der Stimme von Nicholson zu suchen hat.
Im Wintergarten meiner Villa sitzen der Schauspieler Armin Müller-Stahl, genannt Minchen, und meine Frau Ottilie, sie haben mit dem Frühstück auf mich gewartet. Auf Minchens fragenden Blick sage ich: »Erledigt.« Ottilie steht unter einer Art Schock, sie plaudert über den Haarausfall einer unserer Katzen.
Ich lege den Finger auf das Zifferblatt der Standuhr, es ist halb elf. Wenn der Mann den Instanzenweg einhält, wird er seinen Chef im Roten Rathaus anrufen, den Leiter der Abteilung Inneres von Berlin/Hauptstadt der DDR, der wird den Brief selber lesen wollen und läßt ihn sich im Dienst-WOLGA kommen. Mein Finger rückt vor auf halb zwölf, um zwölf Uhr bestellt das Politbüro einen Dienst-TATRA, also nach der Mittagspause haben sie den Ausreiseantrag. Hinter mir steht Minchen, der meinen Finger verfolgt hat, und sagt: »Das würde ich auch denken, um zwölf haben sie ihn.«
Wir frühstücken schweigend. Alle kauen an ihren Rühreibrötchen.
Ich ziehe ein Blatt in die Schreibmaschine und fange auf der Stelle an, dieses Tagebuch zu schreiben. Bis zur Ausreise oder bis zur Verhaftung will ich es durchhalten. Im ersten Fall will ich ihr eine Kopie zukommen lassen, der DDR, damit sie weiß, was sie angerichtet hat. Es könnte eine heilsame Medizin für sie sein; denn wenn ich sie jetzt auch hasse, die DDR, sie ist krank und scheint von ihrem Zustand nichts zu wissen. Wenn sie mich einsperren, erscheint das Buch im Westen. Ich sorge dafür, daß mein Freund Nico von der Italienischen Botschaft auf dem neuesten Stand bleibt, er bekommt täglich die letzten Blätter, die er in Westberlin aufbewahrt.
Am Abend kommt Jurek Becker. In letzter Zeit umarmen wir uns wie Brüder, die sich lange nicht sehen werden.
Die BERLINER ZEITUNG bringt auf Seite 1 ein Foto aus Italien: ein alter Mann mit hochgeschlagenem Kragen sitzt auf der Straße, neben sich ein Pappschild mit der Aufschrift »Fame«, Hunger.
20. April 1977, Mittwoch
Eine benachbarte Freundin stutzt mit Kamm und Schere meinen Haarkranz, manchmal tropft mir eine Träne auf die Glatze. Sie hat bis heute nicht geglaubt, daß ich es tun würde. Sie will, daß ich ihr den Antrag vorlese:
Antrag auf Ausreise aus der DDR in die BRD Mein Name ist Manfred Krug, ich bin Schauspieler und Sänger. Infolge der Scheidung meiner Eltern bin ich als Dreizehnjähriger aus Westdeutschland in die DDR gekommen, wo ich seither lebe. Ich bin verheiratet und habe 3 Kinder. 1956 lernte ich Wolf Biermann kennen, mit dem ich befreundet war und bin. 1965 erschien ein erster gegen Biermann gerichteter Artikel im NEUEN DEUTSCHLAND, gegen den ich polemisiert habe. Daraus erwuchsen mir Maßregelungen und die üblichen Nachteile. Ich gehörte nie zum »Reisekader«, durfte nie an einer der vielen in ferne Länder reisenden DEFA-Delegationen teilnehmen. Weitergehende Folgen sind mir damals jedoch nicht erwachsen. Diesmal ist das anders: Wie bekannt, verfaßten nach der Biermann-Ausweisung 12 Schriftsteller einen Protest, den auch ich unterschrieb. Nachdem ich nicht bereit war, diese Unterschrift zurückzuziehen, hat sich mein Leben schlagartig verändert.
- Das Fernsehen der DDR schloß mich von jeder Mitarbeit aus. Das war hart, weil mir dadurch zwei unwiederbringliche Rollen in Erstverfilmungen verlorengegangen sind: der Ur-»Götz« und »Michael Kohlhaas«.
- »Die großen Erfolge«, eine fertige LP, wird nicht erscheinen.
- Der DEFA-Film »Feuer unter Deck« wird nicht Beitrag der SOMMERFILMTAGE 77 sein, mit der Begründung, ich hätte in Erfurt einen Genossen niedergeschlagen.
- Zwei Tage vor der Biermann-Ausweisung war mir durch das KOMITEE FÜR UNTERHALTUNGSKUNST DER DDR eine Tournee durch Westdeutschland angeboten worden. Diese Tournee findet nicht statt.
- Der VEB DEUTSCHE SCHALLPLATTEN hatte mir die Produktion einer Mark-Twain-Platte für das 1. Quartal ‘77 angeboten. Diese Produktion findet nicht statt.
Im letzten Herbst habe ich auf eine schon genehmigte Reise nach Westdeutschland zur Hochzeit meines Bruders verzichtet, weil mich
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