Abgehauen
meinen Puls.
»Haben Sie dem mündlich noch etwas hinzuzufügen?« fragt der Leiter. »Nein.«
Das Fräulein schreibt sich meine Telefonnummer auf, der Leiter gibt mir angeekelt die Hand, ich gehe. Draußen fange ich damit an, mir die Häuser einzuprägen. Der Buchladen und der orthopädische Schuster waren mir nie aufgefallen. Die Straßenbahnschienen müßten mal wieder gemacht werden. Das gußeiserne Pissoir ist das Grünste, was es an diesem 19. April auf dem Kurt-Fischer-Platz zu sehen gibt. Es ist noch sehr kalt. Schräg rüber vom Kohlenhändler hängt das Transparent, das den ganzen Winter durchgehalten hat, und so sieht es auch aus: PLANE MIT, ARBEITE MIT, REGIERE MIT! Wieviel tausend Menschen mögen das in diesem Moment lesen, an wie vielen Straßenecken im ganzen Land? Und was denken die Leute, wenn sie es lesen? Die Leute denken: Leckt mich am Arsch, und fertig. Ich weiß, wovon ich rede, ich hab wirklich viele gefragt. Die Typen, die das Transparent malen und aufhängen, können die sich nicht dieselbe Frage stellen? Dann kämen sie zu demselben Ergebnis. Warum malen sie das und hängen es auf? Nur um der Partei zu schaden. Um große, unsichtbare Massen zu versammeln, die Tag für Tag, nämlich immer, wenn sie an so einem Transparent vorbeilaufen, denken: leckt mich am Arsch, und fertig. Welchen Schaden die Genossen sich damit zufügen. Und daß sie diesen einfachen Mechanismus bis heute nicht verstanden haben, muß jeden denkenden Menschen befremden, wenn nicht gar abstoßen. Das ist einer der Gründe, warum ich nie Lust hatte, in die Partei einzutreten, obwohl mein Vater mir gelegentlich zu diesem Schritt geraten hat, wegen der Karriere und so weiter.
Nein, im Ernst, wer tatsächlich mitdenken will, oder auch nur mitregieren, der sollte nicht viel über zwanzig sein. Ich bin vierzig. Das ist zu spät, denn wenn du in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschaltet wirst, mußt du jung genug sein zum Warten, bis du wieder eingeschaltet wirst.
Wer schaltet da eigentlich und waltet? Honecker? Abrassimow? Lamberz? Oder dürfen schon die Kleinen, wie etwa Adameck, an den Hebeln spielen? Es hat mir immer ein bißchen ein stolzes Gefühl, ja sogar ein gewisses Gefühl von Freiheit gegeben, mir unter diesen Männern keinen Freund und keinen Gönner gesucht zu haben, nicht mal in den Jahren bis zum XI. Plenum, als ich überzeugt war, die DDR sei noch zu retten. Meine Freunde und Gönner saßen im Publikum. Und wenn ich das Land verlasse, verlasse ich mein Publikum, und sonst gar nichts. Über 60 Filme und Fernsehfilme habe ich gemacht, nur die Hauptrollen gerechnet, und ein Dutzend Langspielplatten. Alles in 20 Jahren. Es hätten dreimal soviel sein können, aber für unsere Verhältnisse ist es viel, es zeigt, wie unermüdlich und fleißig ich war. Das Telefon ging den ganzen Tag, wir hatten eine beachtliche Zahl von Ausreden gelernt, um in freundlicher Form Termine abzusagen. Im November ‘76 verstummte der Apparat.
Ich war nicht im Krieg, nicht mal Flakhelfer. Damit gehöre ich schon der Generation von schlappen Jungs an, die eine anständige Niederlage nicht in Würde wegstecken können. Trotzdem. Ein halbes Jahr ist viel Zeit. Vielleicht nicht für einen Profi wie den Grafen von Monte Christo. Für mich war es zuviel. Wenn man in der DDR ein Jahr als arbeitet, muß man die Hälfte davon ohnehin mit Warten vertrödeln. Anders geht es im Sozialismus nicht.
Aber was sie mit mir gemacht haben: einen anständigen Menschen bestrafen, indem sie ihm die Arbeit; einem Schauspieler zeigen, was ‘ne Harke ist, indem sie so tun, als sei er nie wirklich gebraucht worden, als seien ihm bloß aus Erbarmen ein paar Brocken hingeschmissen worden; ihm eins rüberziehen und sagen: Ohne uns bist du gar nichts; seine Ehre verletzen, seinen Ruf schädigen, indem er verleumdet wird – das kränkt den Stolz des Künstlers.
Mit denen bin ich fertig. Die waren hart mit mir, jetzt muß ich hart mit denen sein. Ein Zurück kann es nicht geben. Wenn ich umkehre, bin ich verloren.
Vor ein paar Tagen rief mich Biermann von drüben an, ich erzählte ihm, daß ich seit seiner Ausbürgerung kein einziges Arbeitsangebot hatte. Einen Tag später warfen sie mir einen Knochen hin, ein paar Takes seien zu synchronisieren in einem rumänischen Film. Ich habe abgelehnt. Ich habe kein schlechtes Gewissen, das mich treiben würde, wieder als Synchronsprecher anzufangen, wie vor 20 Jahren. Verdammt, ich bin ein Star in diesem Land,
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