Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgehauen

Abgehauen

Titel: Abgehauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Krug
Vom Netzwerk:
das in diesem Hause bleibt? Oder wird das heute abend noch weitergegeben?
     
    Einige:
    Nein, nein, schon klar, (usw.)
     
    Beyer:
    Ich habe nur die Frage: Gilt die Vertraulichkeit auch für die reine Tatsache, daß mit dir ein Gespräch stattgefunden hat? Ich frage das, weil ich meinen Drehort verlassen habe heute nachmittag.
     
    Lamberz:
    Ich würde sagen: ja.
     
    Beyer:
    Auch? O. K. Gut.
     
    Wolf:
    Gilt das, Werner, auch dafür, daß man zum Beispiel mit Stephan Hermlin darüber spricht?
     
    Lamberz:
    Nein, Stephan Hermlin nicht. Der hat mit unterschrieben. Aber ich bitte: Wem nützt das, wenn Westjournalisten heute abend in Leipzig zu mir kommen und sagen: Herr Lamberz, Sie haben sich heute getroffen … Ihr findet keine Formulierungen aus diesem Gespräch und über dieses Gespräch bei uns, und ich hoffe, daß ich keine Formulierungen darüber bei euch finde.
     
    Heym und andere:
    Das ist selbstverständlich.
     
    Lamberz:
    Danke.
     
    (Er und seine beiden Begleiter gehen ab.)
     
     
    TAGEBUCH
     
     
    19. April 1977,10.15 Uhr, Dienstag
    Das Rathaus in Berlin-Pankow hält noch ein paar hundert Jahre. Es ist ein roter Backsteinbau mit einem Stummelturm, ein wilhelminisches Gemäuer, nur die Fenstergitter sehen nach Jugendstil aus.
    Heute ist Behördensprechtag, aber niemand will die Behörde sprechen, die Stühle auf den Gängen sind leer. Kaum zu glauben, sonst ist es auf allen Ämtern voll. Dabei riecht es hier nach Menschen, wie in einer Schule, nach Schweiß und Bohnerwachs. Ich komme an die Tür mit der Aufschrift ABTEILUNG INNERE ANGELEGENHEITEN – DER LEITER. Einen Moment bleibe ich stehen und überlege, mit welchem Gesicht ich reingehen soll. Eindrucksvoll muß es sein und MIT MIR IST NICHT ZU SPASSEN muß auf der Stirn stehen. Zwischen meinen – nebenbei gesagt: gütigen – Wurstfingern steckt der Brief. Ich klopfe. Das Fräulein sagt, der Leiter sei nebenan in Nummer drei. In Nummer drei ist wieder ein Fräulein, hausbacken aber geistesgegenwärtig. Sie nimmt zögernd den Brief und lehnt es ab, die mitgebrachte Empfangsbestätigung zu unterschreiben. Sie erkennt, daß es sich um was Wichtiges handeln muß, und sie erkennt auch mich und sagt, ich solle im Flur warten. Da sitze ich nun. Ganz schön berühmt für meine Verhältnisse. Und doch bloß ein Furz auf einem Behördengang in Pankow. Gut 26 DDR-Jahre habe ich auf dem Buckel. Habe lässig die ersten, die trostlosen Jahre runtergerissen, mit den Trümmern und den Lebensmittelkarten, habe mit mei nem Alten zusammen in einem Bett geschlafen und mich nie im Leben so verladen gefühlt wie im Winter ‘49/’50 in Leipzig, unter den Sachsen, die sich dann als so feine, gutherzige Leute erwiesen haben. Das Beste war noch, daß ich die Pauker auf dem Gymnasium in Duisburg hinter mir hatte, eingetauscht gegen die Neulehrer an der 33. Grundschule in Leipzig. Die hatten nicht alle Welt zu bieten, aber sie hatten den Enthusiasmus, dir die neue Welt zu erklären, die wir jetzt gemeinsam bauen würden, die klassenlose, gerechte, endgültige Ordnung, die irgendwie um mich herum errichtet wird, denn ich bin der Mensch, der im Mittelpunkt steht.
    Endlich lassen sie mich rein. Der Leiter sitzt hinter dem Schreibtisch, der mit einem rechtwinklig davorstehenden Tisch ein Tbildet. Um den T-Fuß herum stehen vier Stühle. Das ist nicht so doll. Im Politbüro der SED sitzt ein wirklich großer Leiter, Werner Lamberz, verantwortlich für das Fernsehen, das Radio und die Zeitungen. Im Westfernsehen sagen sie immer, er würde mal der Nachfolger von Erich Honecker werden. Den Lamberz schätze ich auf zwei Dutzend Stühle. Adameck aber, der Vorsitzende des Fernsehens, begnügt sich mit der Hälfte. Die Stühle in den Audienzsälen »hochgestellter Persönlichkeiten« sind ihre Rangabzeichen, man kann sie zählen wie Sterne auf Schulterstücken.
    Der Vier-Stühle-Leiter hier im Rathaus zeigt Haltung. Worum es geht, weiß er schon aus der Überschrift: ANTRAG AUF AUSREISE AUS DER DDR IN DIE BRD. Er muß die paar Seiten schon mehrmals gelesen haben, jetzt blickt er nur noch auf das Papier und versucht, kein Gesicht zu machen. Kein Gesicht zu machen, ist das Schwerste, was es gibt, man macht dabei immer zuviel. Mir gegenüber sitzt das Fräulein mit Block und Bleistift, aber es gibt nichts zu notieren. Es ist still.
    Ich muß an mein Haus denken, das schönste Haus in der ganzen DDR. Unter dem Ärmel meiner bulgarischen Lammfelljacke versteckt, lege ich den Daumen auf

Weitere Kostenlose Bücher