Abgehauen
sehen. Ottilie fährt mit ihnen in die Stadt. Ich habe mir ein nasses Handtuch um den Kopf gewickelt und schreibe. Im Fernsehen beobachte ich abwechselnd die Kundgebungen im Osten und im Westen, die sich weiß Gott unterscheiden. Friedlich pilgernde Massen hier, zum Zeichen ihrer Übereinstimmung kleine Fähnchen und große Fotografien ihrer Arbeiterführer schwenkend; drüben Tote und Verwundete, Haß und Kampfgeist in den Gesichtern. Nur die roten Fahnen auf beiden Seiten. In der Stadt ist was los. Riesenschach wird gespielt, die Kinder dürfen die Straßen mit bunter Kreide vollmalen, es gibt Eishockey im Kasten, und im Haus des Lehrers ist Buchbasar, wie an jedem 1. Mai. Dort sitzen die Schriftsteller leibhaftig an Tischen, signieren und verkaufen ihre Bücher. Jeder kann sich an der Länge seiner Publikumsschlange ausrechnen, wie gut er schreibt, die mit geringem Andrang trösten sich damit, daß niemand sie versteht. Am Basar nehmen nur Schriftsteller teil, die Mitglieder des Verbandes sind, und eigentlich ist jeder DDR-Schriftsteller Mitglied des Verbandes. Heiner Müller nicht, der ist vor langer Zeit leichtfertig ausgeschlossen worden, und nun hofieren sie ihn, damit er wieder eintritt. Seit kurzem ist auch Jurek draußen. Damals, aus der Partei und aus dem Vorstand des Schriftstellerverbandes frisch ausgeschlossen, war er neugierig, wie wohl der neue Vorstand aussehen würde. Als er die Liste der Namen las, erklärte er gleich noch einen Austritt, nämlich aus dem Verband. In der Begründung heißt es:
» … Es scheint, so fürchte ich, gelungen zu sein, eine Atmosphäre der Apathie zu erzeugen, in der diejenigen Kollegen, die es hin und wieder wagen, freimütig ihre kritische Meinung zu äußern, als Abweichler oder gar als Provokateure abgestempelt sind. Das ist ein schlimmer Zustand. Durch den neu gewählten Vorstand fühle ich mich nicht repräsentiert, noch glaube ich ernstlich, daß er meine Interessen vertritt. Ich sehe daher keinen vernünftigen Grund, länger in einem Verband Mitglied zu sein, der sich fast einmütig einen solchen Vorstand wählt, und erkläre hiermit meinen Austritt.«
Deshalb wird der Schriftsteller Jurek Becker dies Jahr nicht hinter einem Tisch im Buch-Basar sitzen, keine Schlange haben, den Kontakt mit Freund und Feind im Publikum vermissen.
Mittags kommt er mich besuchen. »Laß uns in die Stadt fahren«, sagt er. »Die sollen nicht denken, daß wir Ratten sind, die sich jetzt verkriechen. Wir wollen uns den Buchbasar ansehen.« Ottilie ist mit den enttäuschten Kindern inzwischen zurück und fährt noch einmal mit zum Alexanderplatz. Die längsten Schlangen haben Christa Wolf, Stefan Heym und, es nützt alles nix, der Wunderknabe Kant. Ich nehme mir vor, in der Schlange von Kant die häßlichsten Gesichter zu entdecken, weil ich ihn nicht ausstehen kann und weil er selbst ein so häßliches Gesicht hat. Ich habe meinen Fotoapparat bei mir und mache unauffällig Porträts von den Dichtern, da ist das greise, noch immer schöne Gesicht der Großmeisterin Seghers, das verschlissene von Kant, das feiste von Kahlau, das gütige von de Bruyn, das würdige von Heym und das falsche von der Steineckert. Verzagt sieht Christa Wolf aus, und fast zugewachsen ist das Gesicht von Jurek, der nun doch in einer Ecke, sozusagen schwarz, Autogramme gibt.
Jurek unterhält sich lange mit einem unscheinbaren Mann in Schlips und Kragen, den ich für den hiesigen Aufsichtsbeamten halte. Später stellt sich heraus, daß er der Genosse Höpcke ist, der 1965 im NEUEN DEUTSCHLAND mit einem brutalen Artikel das Feuer auf Biermann eröffnet und ihn damit bis zu seiner Ausbürgerung kaltgestellt hat. Seit dem Tag ist Höpcke Besitzer eines Briefes mit den wenigen Worten: Sehr geehrter Herr Höpcke, Sie sind ein Arsch. Gruß – Manfred Krug. Heute weiß ich, daß man das einem Kulturredakteur des NEUEN DEUTSCHLAND differenzierter hätte sagen müssen. Ach, man war jung und dumm.
Höpcke wirft mir, während ich vorbeigehe, einen sogenannten vernichtenden Blick zu, den ich mir nach all den Jahren nicht erklären kann. Später wird Jurek mir sagen, daß Höpcke heute der Buch- und Verlagsminister der DDR ist. Ich frage mich, was Jurek mit dem Menschen zu reden hat, dessen Gesicht so nichtssagend ist, daß er damit geradezu auffällt. Jurek sagt, das Gespräch mit Höpcke sei ungefähr so interessant gewesen, wie Gras beim Wachsen zu beobachten. Der Minister habe zu der ganzen Affäre keine anderen
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