Abgehauen
an kleineren Jungs, die lachend aufstiegen. Diesmal wird das anders sein.
29. April 1977, Freitag
Wir zählen die Tage und von jedem Tag die Stunden. Wir fühlen uns wie auf Besuch im eigenen Haus. Der Schauspieler Wilhelm Koch-Hooge, ein fast vergessener DEFA-Filmheld der fünfziger Jahre, ein Star, kommt mich besuchen. Eigentlich will er von seiner eigenen Verbitterung nichts loswerden, er will sich verabschieden. Vier Jahre fehlen ihm noch an der Rente. Jetzt wollte er seinen West-Bruder zu dessen 70. Geburtstag besuchen. Der Antrag wurde abgelehnt, für siebzigste Geburtstage sei in den Besuchs-Regelungen nichts vorgesehen. »Wer weiß«, sagt er, »ob in vier Jahren mein Bruder noch lebt.« Ich sage: »In vier Jahren kannst du mich besuchen, falls ich schon eine Wohnung habe.« Als er geht, gibt er mir einen kleinen Klaps auf die Schulter.
30. April 1977, Samstag
Die BERLINER ZEITUNG ist heute 16 Seiten stark, auf der 1. Seite ein roter Balken: Es lebe der 1. Mai! Auf Seite 16 der alljährliche Artikel über die Geschichte der Maikundgebung, den lassen sie immer fertig gesetzt ein Jahr liegen. Ottilies Vater hat uns vor ein paar Wochen eine Fahne mit Hammer und Zirkel geschenkt. Otti fragt mich, ob wir flaggen wollen. Wir haben nie geflaggt und entscheiden, damit jetzt nicht anzufangen.
Es ist noch hell, als wir auf Müller-Stahls Grundstück ankommen. Er hat uns zum Essen eingeladen, für mich wird es eher ein Trinken werden. Weil die Landschaft so überwältigend ist und die Eichen so alt, wirkt sein Haus wie eine aufgestockte Laube. Sie liegt am Ufer der Dahme, die an dieser Stelle breit ist wie ich in einer Stunde sein werde. Minchen hat auch nicht geflaggt, aber das kann von der Straße aus niemand sehen, so groß und grün ist sein Grundstück.
Minchens Bruder Hagen aus dem Westen ist da, Jurek, Stefan Heym, Jutta Hoffmann, viele Leute. Unser Thema ist immer dasselbe, es ist noch nicht erschöpft, täglich kommen Nachrichten dazu, dieser und jener ist nach drüben abgehauen, die Kettenreaktion der Biermann-Ausweisung ist endlos.
Und jetzt bin ich dran.
Stefan Heym ist der einzige, der mir ernsthaft abrät, ich glaube, der sucht den ganzen Tag nach Schäden, die er von der DDR abwenden kann. Alles, was er sagt, habe ich schon gehört, von ihm und von anderen; alles, was ich sage, haben er und die anderen schon gehört. Es ist die letzte mickrige kleine Tauschbörse von Argumenten. Einer frotzelt mich an: mein Weggehen könnte den anderen Vorteile bringen, es könnte Privilegien hageln, kleine Freiheiten und große Reisen, vielleicht sogar kürzere Wartezeiten auf Wohnungen und Autos. Das Gespräch erwischt mich in einem Stadium von Angetrunkenheit, in dem ich mich so siegreich fühle, daß ich jetzt schon Angst habe vor dem Aufwachen morgen früh. Falls ich meinen Schritt wie ein Opfer für die Zurückbleibenden empfinde, sagt Heym, so wäre dieses Opfer überflüssig, Auslandsreisen für Dissidenten seien schon jetzt wie sauer Bier zu haben. Ich solle nicht den Verdacht aufkommen lassen, sagt der Alte, daß ich vor allem aus Menschenliebe weggehe. Ich bin gerade so voll, diese Attacke noch mitzukriegen, deshalb lehne ich mich abschließend noch mal richtig auf: »Männchenliebe? Den Helden gepe ich nur, wenn die Gasche stimmt«, sage ich. »Aber du gipst ihn ja umsonßt, das reischt. Sei nisch so bittel ernzt. Das unverheitz … äh unverzeihlische Wort is geschprochen: ich verlasze die Täterätä. Mal muß Schulz sein mit dem Hin und Hair. Ich will auch nicht, daß die Täterätä mir waß vertßeiht, wie kommt die denn datßu? Die Zukumft in der Täterätä habe ich mir ein halbes Jahr lang ausgemalen. Für mich siehtz schlechter auß alz für dicht. Du bist berümmst …« Also, ich sagte, er sei berühmt und unantastbar. Und je mehr die Täterätä ihn haßt, desto berühmter und unantastbarer wird er sein.
Hagen Müller-Stahl fragt, was »Täterätä« bedeuten soll. Die anderen lachen ihn aus und sagen’s ihm nicht.
Als ich die Hazienda zur Straße hin durchfalle, denkt es noch, der Heym will mich nicht festhalten, der will bloß kucken, ob ich noch ganz starksinnig bin …
Ottilie fährt ihren großartigen Manfred nach Hause.
So was schreibt man nicht ins Tagebuch?
Siehste doch.
1. Mai 1977, Sonntag
Unsere Kinder wollen den 1. Mai erleben, den Vorbeimarsch der Werktätigen, die bunten Fahnen und Transparente, sie wollen die donnernden Grußworte hören und Erich Honecker
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