Abgehauen
Wichtigtuer Günther Reisch und Lothar Bellag. Die Biermannausbürgerung, soweit sie von den Teilnehmern des Kongresses wahrgenommen wurde, hat sie darin bestärkt, daß die Qualität ihrer Beiträge für die nächsten hundert Jahre genau das richtige ist.
Mittags packe ich mein bis heute geschriebenes Tagebuch ein und fahre in Jureks Mahlsdorfer Haus, wo wir das Ehepaar Becker zehn Jahre lang besucht haben, wo wir Skat gespielt und gefeiert, zum Wochenende übernachtet und liebevoll die Freundschaft unserer beiden Familien gepflegt haben. Beckers und Krugs wohnten 30 Kilometer voneinander entfernt, es wurde streng darauf geachtet, daß wir uns abwechselnd besuchten, jeder von uns ist wenigstens fünfhundertmal diese 30 Kilometer gefahren. Seit einigen Wochen ist Jurek von seiner Frau Rike geschieden, sie hat das Haus behalten. Die Räume im Parterre sehen aufgeräumter aus als sonst, sie wirken unbelebt und fremd. Jurek übernachtet nicht mehr hier, er hat eine Altbauhöhle im dritten Stock eines Hinterhauses, nur zum Schreiben kommt er tagsüber her an seinen gewohnten Platz. Hier leben auch seine beiden halbwüchsigen Söhne. Der Schriftsteller Klaus Poche ist da, wir fahren zu dritt in eine Privatwohnung im Süden Berlins. Die Gastgeberin hat ihre Wohnstube mit zum Teil aus der Nachbarschaft geliehenen Stühlen vollgestellt, die alle besetzt sind. Von den DDR-Schriftstellern erkenne ich Sarah Kirsch, Klaus Schlesinger, Hans Joachim Schädlich und Elke Erb. Günter Grass sitzt leibhaftig da, ich werfe einen verstohlenen Blick unter sein Kinn, wo ich den Riesenknorpel vermisse, den kolossalen Adamsapfel, das berühmteste Schluckorgan der Literatur. Die Namen noch zweier Westdichter lasse ich mir zuflüstern, Hans-Christoph Buch und Christoph Meckel, der gerade die seltsame Geschichte »Stiefbein« liest. In einem Hut liegen kleine Zettel, beschrieben mit den Namen der Anwesenden. Nacheinander werden sie blind gezogen, und der Träger des aufgerufenen Namens darf aus seinen Manuskripten lesen. Ich sperre Mund und Nase auf. Was sie dort vortragen, ist phantastisch, jeder zaubert eine neue Welt in die verrauchte Stube, sie treiben sich in vergessenen Jahrhunderten und sonstwo herum. So was müßte man auf großen Bühnen machen. Schädlich liest eine Wahnsinnsgeschichte, in der nichts passiert, aber auf atemberaubende Weise. Seine Sprache ist so raffiniert, daß die Zeitlupe seines Vortrags noch hastig scheint. Er wirkt angenehm und bescheiden, genießt sich durchaus selbst, einige schließen die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Hans-Christoph Buch mißglückt diese Methode, er nickt vorübergehend ein. Nach jeder Lesung folgt eine Gedenkminute, dann die Kritik. Man geht schonend miteinander um, Kritisches wird fachmännisch und höflich vorgebracht. Was mich überrascht: alle diese Leute, die wie Schriftsteller schreiben, sprechen wie ganz normale Menschen, oft ungewählt und wenig genau. Jeder kennt seine eigene Verletzlichkeit, die bei ihnen stärker ausgeprägt sein muß als etwa bei Schauspielern. Dessen sind sie sich offenbar bewußt, wenn über die Arbeit des anderen gesprochen wird. Schlesinger liest Erheiterndes, Jurek ein unbekanntes Kapitel aus seinem Roman, Hans-Christoph Buch eine Indianergeschichte. Alle werden ein bißchen gelobt und ein bißchen getadelt. Ich denke nicht daran, etwas zu sagen, ich wage es nicht. Mir, dem bewundernden Amateur, gefällt ohnehin alles besser als denen. Dann kommt das »Unverhoffte«, auf das ich doch gehofft habe und zu dem Jurek mich ermuntert hatte: Ich bin dran. Da fangen die Privilegien schon wieder an, seit dem 19. April schreibe ich etwas auf, und schon am 6. Mai darf ich es in dieser erlauchten Runde loswerden. Was man schnell geschrieben hat, denke ich, sollte man auch schnell vorlesen, und fliege nur so über die Seiten. Es kann sein, daß ich errötet bin, jedenfalls fasse ich es als eine Ehrung auf, als Grass zwischendurch um weniger Tempo bittet. Mit schaumiger Spucke halte ich auf Seite 25 an. Alle nicken mir freundlich zu, keiner hat sich gelangweilt, keiner läßt eine Gemeinheit los, das ist auch nicht nötig, ich weiß schon Bescheid. Bei mir sind sie nicht an der Kunst interessiert, sondern an der Reportage. Vielleicht kommt auch ein anderer Effekt hinzu, vielleicht ist es wie auf einer Ausstellung von sagen wir Brieftauben, wo ein Exemplar zwar besondere Aufmerksamkeit erregt, aber nur durch seine großen Füße.
Zwischendurch gehe
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