Abgehauen
Geschäft machen. Alle wissen, daß der Ausreiseantrag gestellt ist. Alle werden sagen, für ein paar Zugeständnisse ist der Krug im letzten Augenblick umgefallen. Es ist wieder ein Akt der Selbstherrlichkeit, wie Sie mir jetzt die Brocken hinwerfen. Und das alles ist Ihnen eingefallen, nachdem Sie wußten, ich mache es wahr. Noch vor zwei Wochen hätte weniger genügt, eine schlichte Verabredung mit mir, wie lange ich den Kopf würde einziehen müssen. Ich hätte es verstanden. Und nach einem Jahr wäre der Krieg wirklich beendet gewesen, auch für die Öffentlichkeit.«
Hoffmann sagt: »Wenn Sie diese Angebote kränken, wenn Sie das als eine Art von Korrumpierung ansehen oder als >Selbstherrlichkeit<, dann lassen Sie uns das vergessen. Ich werfe den Zettel weg. Aber da steht noch mehr. Schon vor Ihrem Ausreiseantrag habe ich den Leiter der Konzert- und Gastspieldirektion bestellt: Eine Tournee kann bald gemacht werden; den Leiter der Künstleragentur: auch da kann man was machen; den Leiter der Schallplatte: die Mark-Twain-Platte könnte produziert und ›Die großen Erfolge‹ herausgebracht werden; das Komitee für Unterhaltungskunst; da wäre was möglich; den Chef der DEFA: hier gibt es keine konkreten Angebote, das hängt vom Plan und von den Regisseuren ab.«
Ich muß an den Regisseur Olav Koziger denken, den größten Seiltänzer in der ganzen DDR; an Martin Eckermann, der es nicht über sich brachte, mir den Grund für die Absage des »Michael Kohlhaas« zu nennen, nämlich mein Berufsverbot im Fernsehen; an den Regisseur Kasprcik, der ein Blatt im Winde ist. So viele Blätter im Winde. Wie soll man mit den Leuten wieder zusammenarbeiten? Ich sage dem Minister Hoffmann ins Gesicht, daß alles das erst nach meinem Antrag überlegt worden ist, denn von der Twain-Platte kann der Chef des VEB AMIGA nichts gewußt haben, das wußte nur der Abteilungsleiter. Der Minister hat keine Lust mehr zu widersprechen. »Ich wußte wirklich nicht«, sagt er, »daß Sie so verletzbar sind. Sie brauchen einen Beschützer. Ich werde meine Hand über Sie halten.«
»Sie werden eines Tages nicht mehr Kulturminister sein«, sage ich.
»Sie haben sicher immer gut verdient«, sagt Hoffmann, »aber bei Lichte besehen, ist Ihnen in schwierigen Situationen wenig geholfen worden.«
»Ja«, sage ich, »ich hatte hier oben nie einen Freund.« Er fragt leutselig nach meinen alten Autos, und wir kommen in ein langes Gespräch über mein Leben. Er scheint widerwillig zu begreifen, daß ich alle Abenteuer bloß in Filmen erlebt habe, sonst nirgendwo, daß mein Leben Arbeit war, wenn ich was erleben wollte, mußte ich es durch Arbeit erleben; daß ich auf die Ferne, auf die blaue Moschee und den Karneval in Rio neugierig war und diese Sehnsucht sublimiert habe durch das Schleifen einer alten Kurbelwelle; daß ich krank und unglücklich geworden war.
Er wirft das amerikanische Wort Midlife-crisis ins Gespräch, in seiner Miene mischen sich Verachtung und Verständnis, ich kann ungefähr lesen, was er denkt. Was soll man machen, das ist der Schützengraben, das ist unsere Zeit, das ist der real existierende Sozialismus, der meine ganze Generation krank und unglücklich macht. Und sie lassen sich nichts einfallen. Bis zum heutigen Tage haben sie nicht erreicht, daß meine Frau und ich morgen nach Prag oder Ulan Bator oder Samarkand fahren können, weil es nicht möglich ist, wenigstens so viel Geld einzutauschen, daß man übernachten und sich ernähren kann. Ich will nicht zum Fürsten gehen und jeden Blick hinter die Mauer, selbst in östliche Richtung, zum Privileg machen. Ich will ins Reisebüro und zum Fahrkartenschalter gehen. Die Freundschaft der sozialistischen Länder ist bloß die Freundschaft ihrer ängstlichen Regierungen. Was ist die deutsch-sowjetische Freundschaft? Ein Abzeichen an der Jacke, mehr nicht. Wenn ich auf der Landstraße bei Dallgow wegen eines stehenden, stinkenden Russenkonvois anhalten muß und endlich mit meinem Schulrussisch einen Soldaten anspreche, kommt der Natschalnik und sagt: Idi na Chui, Job twaju Matj! Und das könnte man frei mit: Verpiß dich, du Arsch! übersetzen. In der großen sozialistischen Sowjetunion können wir uns nicht bewegen. Kein Bauer in Grusinien tauscht sein Spielgeld gegen mein Spielgeld, eher würde er mir einen Hammelbraten schenken, aber ich weiß nicht, wie ich zu diesem Bauern hinkommen soll.
Hoffmann verschränkt knackend seine Finger, von denen der linke kleine fehlt, und
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