Abgehauen
spricht über Sachen, von denen wir beide nichts verstehen. Zum Beispiel sagt er. »Ein guter Satz in einem Roman kann mehr wert sein als ein halbes Studium an der Walter-Ulbricht-Akademie.« Wie er an diesen Punkt des Gesprächs gekommen ist, weiß ich nicht.
Er habe es auch nicht leicht, die Künstler seien schwierige Leute, es sei nicht verwunderlich, daß sie dem Volk nie ganz geheuer sind. Die Leute trauen denen alles zu, die größte Heldentat und die größte Untat. So erkläre sich auch der Schwall von Gerüchten, gegen die es leider keine Handhabe gibt. Aber ich müsse auch begreifen, die Enttäuschung im Volk sei groß.
Jemand bringt zwei Tassen Kaffee, der Minister schlürft jetzt die väterliche Runde ein. Mir schwimmen zwischendurch manchmal die Augen, dafür könnte ich mich an die Wand klatschen. Hoffmann sieht es mit Genugtuung und greift noch einmal abwechselnd in die Harfe und ins Füllhorn.
Ich sage: »Das sind die Gene von meiner Großmutter. Die war auch immer so feucht im Gesicht. Aber bitte mißdeuten Sie das nicht. Nehmen Sie es meinetwegen als Gemütsbewegung, nicht als Weichheit oder Wanken.« Die Worte, mit denen der Minister ins Gesprächsfinale überleitet, werden immer bewegender, und es wächst mein Verdruß, sie anzuhören. Aber ich muß sagen, so hochherzig kommen mir seine Angebote auch nicht vor. Kein Wort vom »Götz« und vom »Kohlhaas«, nichts vom Fernsehen und vom Film. Nur recht viele Konzerte, in denen ich im Durchschnitt vielleicht 700 Menschen pro Abend erreichen kann, und die können im Ernstfall ausgesucht werden. Immerhin hätte mein Ausreiseantrag etwas möglich gemacht, was ich seit Jahren vergeblich vorschlage, eine Jazz-Tournee durch die Sowjetunion. Der Minister ist an der Stelle angekommen, wo er fast bittend die Worte sagt: »Bleiben Sie hier. Sie gehören doch zu uns.«
Ich war ein Idiot, zu diesem Gespräch zu kommen, mir das anzutun. Hoffmanns Ton macht es mir so schwer, noch das Geschäftsmäßige zu erkennen, den politischen Auftrag, einen weiteren Skandal zu verhüten, gerade in diesem Augenblick, wo die Ausreiseanträge sich stapeln, wo die Regierung so weit gehen muß, ihrerseits den SPIEGEL und das Westfernsehen zu mißbrauchen, um die Bürger im eigenen Land einzuschüchtern. Antragsteller könnten künftig strafrechtlich verfolgt werden, hört und liest man, und alle verstehen, daß es sich um Drohungen der Regierung gegen das Volk handelt. Jetzt ist es soweit, daß die Regierung mit ihren Mitteilungen an die Kulturschaffenden des eigenen Landes denselben Weg geht, den die Kulturschaffenden mit ihren Mitteilungen an die Regierung gegangen sind. Und keiner läßt sich in beiden Richtungen so bereitwillig mißbrauchen wie der Klassenfeind. Ich schäme mich dafür, daß Hoffmann sich vor mir erniedrigt, ich leide für seinen Mißerfolg, seine Not tut mir im Herzen weh.
»Verfolgen Sie mich nicht mit Ihrem Zorn«, sage ich. Er sagt, ich solle es mir noch einmal überlegen, eine Woche, zwei oder vier Wochen, ich solle mit der Familie noch einmal beraten. Er gibt mir seine Direktnummer und seine Privatnummer, er hat mir aufgeschrieben, wo er am Wochenende zu erreichen ist. Was ist denn jetzt los? Ich stecke den kleinen Zettel ein, den er wiederum aus der Hosentasche gezogen hat. Wir stehen an der Tür, geben uns die Hand. Ich gehe. Er ruft mich noch einmal zurück, steht dicht vor mir, daß ich seinen Atem riechen kann und sagt mit dringlicher, leiser Stimme: »Werden Sie mich anrufen? In jedem Fall?«
»Das werde ich sicher nicht tun. Nur wenn ich es mir anders überlegen sollte«, sage ich. Ich stürze durch das Vorzimmer. Auf dem Gang zur Treppe bin ich allein. Es heult nur so aus mir heraus. Bis zum Pförtner habe ich mich gefangen, um Ottilie, die gegenüber im Wagen stundenlang auf mich gewartet hat, keine Schwäche zu zeigen. Wir fragen uns, wie morgen in der Abteilung Inneres in Pankow die Antwort ausfallen wird. Mit Hoffmann hatte ich darüber kein Wort gesprochen.
Zu Hause erzähle ich Ottilie und Jurek, der zu Besuch ist, den Hergang des Gesprächs.
Am Abend um sechs steht ein nervöses Fräulein draußen, das mir nicht in die Augen blickt. Sie ist eine der beiden aus Zimmer 3 im Pankower Rathaus: »Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß der Leiter unserer Abteilung plötzlich erkrankt ist, der Termin morgen muß deshalb ausfallen.« Die kleine Frau sieht an mir vorbei und zupft mit beiden Händen an ihren Ärmeln. Sie tut mir leid. Ich
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