Abgehauen
ich in die Küche, da steht Elke Erb in der Ecke. Ich erschrecke, weil sie weint, sie hält sich mit beiden Händen an einem Schrank fest und stampft mit dem Fuß auf, immer wieder, offenbar hat sie Schmerzen. Ich drücke sie ein bißchen, ihre Zartheit weckt den Ritter in mir, ich will mich um sie kümmern. Schon gut, sagt sie, das sei gleich vorüber.
Grass liest mit Selbstgenuß ein Kapitel aus seinem 700-Sei-ten-Roman »Der Butt«, und als er fertig ist, wird nicht gemäkelt. Er ist schon der Meister in diesem Zimmer, und er weiß es. Mir fällt auf, daß alle ihn mit »Sie« anreden. Die zarte Frau Erb hat sich erholt, sie trägt ihre Gedichte vor, die wohlwollend aufgenommen werden. Etwas später ist, begleitet von einer phlegmatisch wirkenden Dame, ein West-Lyriker dazugekommen, Johannes Schenk, der einige Amerikagedichte liest, melancholische Stimmungsstücke. Grass gefallen sie nicht so recht, diesmal geht er schärfer ran, alle hören aus seinem Munde das Wort »Touristenlyrik«. Schenk und die Dame schimpfen. Grass läßt sich den Vorwurf gefallen, dem Schenk schon immer abhold gewesen zu sein.
Um halb zwölf wird aufgebrochen, einige fahren in den Westen, alle anderen bleiben da.
Ich fahre die zarte Frau Erb nach Hause. Unterwegs huckt sie mir das Kompliment auf, meine 25 Seiten hätten ihr den Magenkrampf in der Küche eingebracht. Bei mir zu Hause ist alles dunkel. Auf dem Tisch liegt ein Brief von Ottilie:
Mein Lieber,
um 18.00 Uhr hat das Büro Lamberz angerufen. Die Sekretärin Krause hat die Nummer 4396757 durchgegeben. Sie erwartet Deinen Anruf bis 22.00 Uhr. Danach rief sie noch zweimal an. Du sollst Dich morgen früh melden, sonst tut sie es.
Gute Nacht,
Deine Ottilie.
Mit einem Pappstreifen blockiere ich die Telefonglocke, schließe die Gartentore ab, trenne den Draht der Türklingel vom Transformator. Ottilie kommt im Nachthemd die Treppe runter, sie sieht zum Erbarmen aus. »Was ist mit dir?« frage ich. Sie sagt: »Mein Vater und seine Frau waren hier.« Das muß furchtbar für sie gewesen sein. Ottilies Vater ist Genosse seit Gründung der Partei, ein »guter« Genosse. Ich kenne keinen, der unerschütterlicher und gläubiger der Partei anhängt als er, ein ehrfurchtgebietender Mann, Kunsthistoriker, ein Mann von hoher Bildung und Herzensgüte. Er hat seiner Tochter angekündigt, daß er mich morgen besuchen wird. Ich furchte mich vor seinem brechenden Blick und davor, daß er mir sagen wird: »Du kostest mich Jahre meines Lebens.«
7. Mai 1977, Samstag
Unsere Kinderfrau ist früh um 4.00 Uhr zu ihren Verwandten aufs Dorf gefahren, sie hat die ältere Tochter Josephine mitgenommen. Daniel ist mit dem Schülerkabarett bis morgen verreist. Ich bin mit Ottilie und der jüngsten Tochter Fanny allein im Haus. Es wird nur geschwiegen heute, die Kleine macht manchmal ein fröhliches Geräusch, sonst wäre es kaum auszuhalten.
Sonnabend. Was hatten wir früher für Sonnabende. Um zwei Uhr mittags habe ich die Sekretärin Krause noch immer nicht angerufen. Es ist wie im Italo-Western, wenn der Mann in der flirrenden Sonne steht, du hörst nur die Grillen, siehst die Hutkrempe am oberen, das Kinn am unteren Bildrand, jemand patscht nach einer Fliege, und Morricone läßt das Totenlied auf der Mundharmonika spielen. Es dauert ewig, bis was passiert, aber der Schweiß bricht dir aus. Ich schreibe:
Liebe Schwiegereltern!
Ein weiteres Gespräch mit mir über die Ausreisefrage ist überflüssig. Deshalb möchte ich in dieser Sache nicht mehr besucht werden. Der Vorwurf, meine Reaktion sei nichts anderes als Beleidigtsein, ich hätte nur private Interessen im Sinn, trifft mich nicht.
Ihr wißt, liebe Schwiegereltern, daß Ihr uns immer und überall willkommen seid, solange es um etwas anderes als die Ausreise geht.
In aufrichtiger Liebe – Manfred
Ottilie findet den Brief in Ordnung, sie erklärt sich bereit, ihn nach Weißensee zu ihrem Vater zu bringen, ihn durch den Briefschlitz zu werfen und wieder zu verschwinden. Als sie das Tor aufschließt, um loszufahren, stehen ihr Vater und Lottchen, seine Frau, vor dem Haus. Ich bitte die Schwiegereltern herein. Ich fühle mich zerschlagen. Ich merke, daß ich alt werde. Ich kann die Mundharmonika in meinem Kopf nicht abstellen. Ich weiß nichts davon, daß ich Tassen und Pulverkaffee hole. Ottilie und die kleine Fanny gehen spazieren.
Die Kreisleitung der Partei in Berlin-Weißensee hat meinen Schwiegervater, den guten
Weitere Kostenlose Bücher