Abgehauen
Genossen, aufgesucht und ihn angehalten, mir den Kopf geradezurücken. Was sie jetzt mit mir machen, werden sie später das Ringen um Manfred Krug nennen. Sie haben um Biermann gerungen, um Brasch gerungen, um Nina Hagen gerungen, jetzt ringen sie gerade wieder mit mir. Die ganze Partei eine Ringer-Riege. Während der folgenden zwei von allen als heroisch erlebten Stunden wird weitergekämpft, reihum, mit wechselndem Erfolg, gegen Wutausbrüche, Schreikrämpfe und mit den Tränen wird gerungen. Das Gespräch besteht aus Versatzstücken vergangener Gespräche. Nach zwei Stunden brechen wir ab, sie begreifen, es ist vorbei mit mir. Wir essen Kotelett mit Salzkartoffeln und Tomatensalat. Dann gehen diese beiden herzensguten Genossen, die so grausam sind, ihrer Tochter schon jetzt zu versichern, daß eine Rentnerreise in den Westen für sie niemals in Frage kommen wird, zur Kreisleitung der Partei und erstatten ihren traurigen Bericht.
Jurek kommt. Er hält es für denkbar, daß Lamberz nur die Modalitäten meiner Ausreise besprechen will. Auch er weiß mir keinen Rat.
Der Jazztrompeter und Big-Band-Chef Klaus Lenz kommt. Vor vielen Jahren war er Mitentdecker des Sängers Krug. Lenz steht draußen vor dem Zaun und winkt und pfeift. Ich schließe ihm das Eisentörchen auf.
»Hallo, Manne, alter Haudegen, wie geht’s? Ich hab ‘ne Flasche Whisky mit, kann ich mir leisten, bin zu Fuß da, das weißt du doch, den Führerschein bin ich schon anderthalb Jahre los. Wollte bloß mal fragen, wo man so ‘n Ausreiseantrag abgibt und wollte auch deinen Schrieb mal durchlesen. Kannst dir nicht vorstellen, wie krachsauer ich bin. Die Strolche haben mich derart angeschissen, ich hab denen im Ministerium gleich gesagt, wenn ihr mich diesmal nicht rüber laßt, nach Moers zum Jazzfestival, dann ist bei mir der Riemen runter. Ach, iwo, Herr Lenz, sagen die, das machen wir schon, Sie können hinfahren, und ich freu’ mich schon wie ein Kind. Jetzt komme ich gestern zu der Sackowski ins Ministerium, und was wird die mir sagen? Die wird mir sagen: Es geht nicht. Und warum? Weil ich auf dem Formular die Ausweisnummer vergessen habe oder was weiß ich. Montag früh knall ich denen die Ausreise auf den Tisch, gleich zusammen mit dem Berufsausweis. Ich hab die Schnauze voll!«
Der Whisky wird nicht angerührt, Lenz hat noch dichter am Wasser gebaut als ich, das würde im Suff eine schöne Überschwemmung geben. Er will morgen wiederkommen, mir seinen Ausreiseantrag zeigen.
Am Abend läuft im Westfernsehen der Schlagerwettbewerb »Grand Prix d’Eurovision«. Die Ansagerin dort in England freut sich mehrsprachig darüber, daß sie heute 800 Millionen Zuschauer erreicht, erstmalig sei die Sowjetunion live angeschlossen.
Was für eine appetitliche Show, was haben die Leute sich angestrengt, sie singen live, das Orchester spielt live, und es stimmt jeder Ton, sie tanzen und wippen, und was haben sie für Kostüme an und für Perücken auf und was für Schminke im Gesicht, und was haben sie für ein grandioses Bühnenbild und was für ein herrliches Orchester. Da sieht man, wie sie für ihre Profitgier schuften müssen. Irgendwo in der Sowjetunion, vielleicht am Ladogasee, von dem das Eis noch immer nicht runter ist, wird der Ingenieur Affanassi Protopenko neben seiner Frau Galina auf dem Sofa sitzen und das alles sehen, und er wird an seine trostlose Stadt und an sein Leben denken. Und gutmütig wird er seine Hand auf ihren fleischigen Schenkel legen und sagen: »Ach, Galinka, Job twaju matj!« Und irgendwo in England wird ein Engländer sitzen und sagen: »Ein neuer Job wäre mir lieber als ein neuer Pop.«
8. Mai 1977, Sonntag
Ohne Auto kommt Klaus Lenz den weiten Weg von Lichtenberg, um mir seinen Ausreiseantrag zu zeigen, ein wütendes Schriftstück von drei Seiten Umfang, voll von derben Beschimpfungen, die ihm eher eine Reise nach Bautzen eintragen werden als nach Moers. Immer war ich der Schriftgelehrte der Musiker, vor allem wenn es um Behördenbriefe ging, also streiche ich auch Lenzens Pamphlet auf die Hälfte zusammen, nachdem ich ihm das Versprechen abgenommen habe, mich nicht zu verraten. »Ich bin nicht das Eigentum der DDR oder eines anderen Staates, noch das einer Partei oder Religion.« Den Satz möchte er gern drinbehalten, den habe er irgendwo gelesen, nur die drei großen Buchstaben habe er hinzugefügt. Walter Kaufmann kommt mit seiner Frau, der Schauspielerin Angela Brunner, um mir anzukündigen, daß er sich
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