Abgehauen
versuche freundlich und ruhig zu sein, wünsche ohne Ironie gute Besserung, damit wir den Termin bald nachholen können. Ottilie ist erstaunlich gefaßt, sie sitzt auf den Steinen der Terrasse und wundert sich offenbar über nichts. Sie ist mit der ganzen Geschichte fertig. Ich finde sie unglaublich tapfer. Ich frage mich, ob es je in unserem Leben eine andere Gelegenheit gab oder geben würde zu begreifen, daß man allein schwach ist, daß man zu zweit nicht doppelt so stark ist, sondern noch viel stärker. Ohne sie hätte ich das Ganze nicht durchgestanden.
Jurek und ich halten es neuerdings so, daß wir bei taktischen Gesprächen durch den Garten gehen. Uns ist klar, daß mit der Erkrankung des Pankower Leiters ein langer Nervenkrieg beginnt. Wir müssen etwas tun. Wir schreiben zum ersten und letzten Mal gemeinsam, der Oscar-nominierte Schriftsteller Becker und ich, einen Brief, der schon deshalb eine Rarität ist:
Berlin, 4. Mai 1977
Sehr geehrter Herr Minister Hoffmann! Nach unserem heutigen Gespräch ist mir um 18.00 Uhr mitgeteilt worden, daß der Leiter der Abteilung Inneres beim Rat des Stadtbezirks Pankow, der mich für morgen 11.00 Uhr in sein Büro bestellt hatte, um mir eine Antwort auf meinen Antrag zu geben, plötzlich erkrankt sei. Dabei hätte mir gewiß auch sein Stellvertreter diese Antwort geben können.
Sollte die Absage des Termins auf eine Initiative von Ihnen zurückzuführen sein, weil Sie in unserem freundlichen Gespräch eine Revidierung meines Standpunkts gesehen haben könnten, so bin ich mißverstanden worden. Mein Entschluß ist unumstößlich, und ich werde mich weiterhin mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln bemühen, ihn zu realisieren.
Ich bitte Sie, diesen nervenaufreibenden Zustand zu beenden, denn sein Fortdauern bedeutet keinerlei Klärung und würde mich zwingen, meinen Antrag an anderer Stelle zu wiederholen. Hochachtungsvoll!
Wenn man mich fragen würde, an welcher Stelle, so würde ich antworten: beim Staatsrat, wo denn sonst.
5. Mai 1977, Donnerstag
Den Brief an Hoffmann bringe ich um sieben Uhr ins Ministerium, wo ich ihn bei der Pförtnerin abgebe. Wenn ein Mensch es an einem Platz nicht länger aushält, so kann es nur einen Grund geben, trotzdem dort zu bleiben: die Erlaubnis, jederzeit zu gehen. Irgendwas an dem Satz ist nicht geglückt, das sehe ich selber. Aber irgendwas an dem Satz ist auch saugut.
Mittags kommt Jurek. Er wisse, sagt er, wo morgen eine Dichterlesung stattfinden werde, im Süden Berlins, Hauptstadt der DDR. Günter Grass soll da sein, ob ich nicht mitkommen wolle. Ich freue mich.
6. Mai 1977, Freitag
Der Klospüler von 1928 ist heute kaputtgegangen, alle Achtung, aber es geht noch, man braucht ihn nur mit der Hand auf null zu drücken.
In der Zeitung steht, daß sie gestern den III. Kongreß des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden beendet haben, der einige Tage tobte. Die Ergebnisse sind identisch mit denen des I. und II. Kongresses, alle Diskussionsredner haben kleine Textpäckchen in der Zeitung, welche die Grundgedanken ihrer Beiträge enthalten, wie etwa:
»Die Gewißheit, daß Filme aus der DDR der Verbreitung progressiver Gedanken in aller Welt dienen, drückte Abd Ar-Razak al Ramadan, Ratsmitglied der irakischen Künstlerunion, aus.«
Als nach dreitägigen Beratungen alles gesagt war, verabschiedeten die Teilnehmer unter starkem Beifall eine Grußadresse an das Zentralkomitee der SED: »Lieber Genosse Erich Honecker! Wir übermitteln … Wir danken … Wir bekunden … Wir unterstützen und verfechten … Die Beratungen unseres Kongresses waren von der schöpferischen Suche geprägt, wie wir mit unserem filmkünstlerischen Wirken am besten zur erfolgreichen Durchführung des Dt. Parteitages der SED beitragen können. Die Film- und Fernsehkunst besitzt ihrem Wesen nach starke Massenverbreitung …« Ach, unsere Beratungen sind immer von der Suche geprägt, und keiner hat gesagt, daß die Massenverbreitung unseres Fernsehens nahe Null ist, daß sie kontinuierlich abgenommen hat in den Jahren zwischen dem ersten und letzten Film- und Fernsehkongreß, daß viele Leute gar nicht mehr wissen, auf welchem Kanal unser Fernsehen stattfindet. Der Kongreß hatte keine Chance, es war wieder eine Versammlung von reiselustigen Hohlköpfen und Schönrednern, es war ein Friede-Freude-Eierkuchen-Kongreß mehr, auf dem zwei Opportunisten zu Vizepräsidenten gewählt wurden, die als Regisseure beschäftigten
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