Abgehauen
jetzt an der Volksbühne den »Hamlet« ansehen und mich anschließend noch mal besuchen werde. Nachts um Viertel vor zwölf kommen sie wirklich, der »Hamlet« sei endlos gewesen, habe ihnen wenig Freude gebracht, sie wüßten nicht, warum, es war einfach nichts. Walter hört mich noch einmal gründlich ab, ich halte mit nichts hinterm Berge. Falls mir etwas zustoße, sage ich, werde mein Tagebuch eine nette Fortsetzungsgeschichte im STERN oder im SPIEGEL abgeben. »Die im Politbüro werden wenig Freude daran haben, wenn die wildfremden Menschen da im Westen Gelegenheit kriegen, diesen kräftigen Schluck aus der DDR-Pulle zu nehmen, so wie sie wirklich schmeckt.«
Ich blase mich auf in letzter Zeit wie ein Igelfisch, ich will klarmachen, daß ich nicht ganz wehrlos dastehe, wenn sie mich greifen wollen.
9. Mai 1977, Montag
Mein Telefon ist ein hölzerner Wandapparat von 1907, den ich umgebaut habe. Sein Innenleben ist in allen Teilen original, die in gedrechseltes Holz eingebaute Wählscheibe hängt separat an der Wand.
Um 10.00 Uhr ziehe ich den Pappstreifen aus der Telefonglocke, und schon klingelt es. Frau Krause aus dem Büro Lamberz ist dran. Um 15.00 Uhr soll ich dort sein. Meine Hoffnung, mit Lamberz über was anderes reden zu können als mit Hoffmann, ist gering.
An einer Ecke des ZK-Gebäudes ist die Anmeldung. Zwei adrette Herren in Zivil füllen mit äußerster Sorgfalt die Passierscheine aus, sie vertiefen sich in meinen Personalausweis, bis sie ein gewisses Stadium von Verzücktheit erreichen.
»Haben Sie eine Tasche bei sich?« fragt der eine. »Nein.«
Dann geht man im Freien zu zweit um die Ecke, wo man beim Portal an einen Uniformierten übergeben wird. Der vergleicht Zettel und Ausweis noch einmal gründlich. Die Halle ist kahl und gewaltig, düsterer Marmor an den Wänden, links der Fahrstuhl, in der Mitte eine die ganze Wand einnehmende Treppe, die zu einer Reihe eloxalgerahmter Glastüren führt, rechts der lautlose Paternoster. Große Büsten, Marx und Engels darstellend, sind der einzige Schmuck. Ich fahre in den 2. Stock, wo ein Wachhabender letztmalig kontrolliert. In den endlosen Gängen mache ich mich auf die Suche nach dem Zimmer 2309. Ich vermisse die Kaffeewolken und die falsche Geschäftigkeit, die man sonst auf solchen Fluren findet. Diesmal fehlen auch die martialischen Posten in ihrer gespreizten Pose, woraus ich schließe, daß es sich damals um ein spezielles Wachkontingent handelte, extra angefordert für eine konterrevolutionäre Situation. Schon die vier harten Schläge, die ich mit dem Knöchel an die Tür haue, sollen etwas von meiner Entschlossenheit zeigen. Frau Krause führt mich wieder in das kleine Wartezimmer, wo ich diesmal nur fünf Minuten ausharren muß. Dann stehe ich Lamberz gegenüber, der mir die Hand gibt und sagt: »Komm rein.« Er ist ein gutaussehender Mann in den sogenannten besten Jahren, grau-blaue Hose, helles Hemd mit grau-blauem Schlips. Wenn man sich Rudolf Prack mit blauen Augen, randloser Brille und im Alter von 45 Jahren vorstellt, aus dem Gesicht das Gutmütige von Prack entfernt, ohne es mit zuviel Gewitztheit aufzufüllen, dann hat man ungefähr den äußeren Eindruck von Lamberz. Wir nehmen auf denselben Stühlen Platz wie damals. Bei Tageslicht sieht es hier längst nicht so reichskanzleimäßig aus, es sind, zähle ich jetzt, nur zehn Stühle, sie müssen den Tisch verkürzt und die Zahl der Stühle verringert haben, der Saal ist eher ein großes Zimmer. Ich habe die Sonne, die manchmal durch die Alufenster scheint, im Rücken, Lamberz hat sie in den blauen Augen, das steht ihm. In seinem angstlösenden rheinischen Anklang sagt er: »Kaffee? Tee? Cognac?« Ich entscheide mich für Cognac, um den leichten Alkoholspiegel, den ich mir auf der Herfahrt aus dem Flachmann reingeholfen hatte, nicht ganz absinken zu lassen. Es ist eine Schande. Er sagt: »Was ist los?«
Ich sage: »Vor einem halben Jahr sind zwei Versprechen gegeben worden. Wir haben unseres gehalten, du deins nicht.«
Lamberz: »Wieso?«
Ich: »Wir hatten versprochen, nach deinem Besuch in meinem Haus am 20. November 1976 keine weiteren Unterschriften zu sammeln, und es hat danach keine gegeben. Du hast versprochen, daß auf Repressalien verzichtet würde, und ich habe sechs Monate lang nichts anderes erlebt als Repressalien.«
Lamberz drückt auf seine Klingel, Frau Krause kommt. »Genossin Krause, such mal aus dem Zeitungsschrank die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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