Abgehauen
Mozambique.«
O Gott, ich weiß den Teufel, was in Mozambique los ist. Er sagt: »Du gehörst in das sozialistische Lager, und nicht zu denen da drüben. Das war jetzt ins unreine gesprochen, das mit Kuba. Ich kann sowieso nicht entscheiden, was mit deinem Antrag wird. Das machen andere Leute. Aber wenn ich gefragt werde, wenn man mich fragt, werde ich sagen: Um Manfred Krug wird gekämpft bis zum letzten.« Diese Worte, die sich anhören, als ginge es um Stalingrad, scheinen mir die trostlosesten Worte zu sein, die ich bis dahin gehört habe. Es ist Zeit für mich, ein Angebot zu machen. Auf meiner Schreibmaschine bin ich bei der Seite 78 angekommen, ich hätte nie gedacht, daß ich mir in knapp drei Wochen so viel von der Seele schreiben könnte.
Ich sage: »Ich bin in diesen Tagen dabei, mir auf einigen Blättern Papier Rechenschaft zu geben, die Chronik dessen aufzuschreiben, was ich seit dem 19. April erlebt und gedacht habe. Ich verspreche dir, wenn du mich gehen läßt, lasse ich dir dieses Tagebuch zukommen, damit du verstehen kannst, was die Leute bewegt, damit du eine Chance hast, andere vorsichtiger und klüger zu behandeln. Ich verspreche dir, so fair zu sein, wie ich selbst behandelt werde. Ich möchte nicht in die Situation kommen, mich wehren zu müssen. Für mich ist ein solches Gespräch der reine Sadismus, weil es mir schwerfällt, in freundschaftlichem Ton auf einer Forderung zu beharren, die du als Feindseligkeit ansiehst. Und es tut mir weh, dich so freundlich sagen zu hören, was doch eigentlich knallhart ist: daß du um mich kämpfen willst. Das ist die Sprache des Politikers. Um mich kämpfen, das kann vieles bedeuten.« Nach einer Weile des Schweigens sagt er: »Ein solches Gespräch habe ich noch nicht geführt.« Falls das wahr ist, wäre ich im Vorteil, ich führe jetzt das zweite derartige Gespräch.
Er sagt: »Eines Tages werden deine Kinder in die DKP eintreten und dich fragen, warum du den Sozialismus im Stich gelassen hast.«
Ich: »Diese Frage werde ich ihnen beantworten müssen. Wenn sie in die DKP eintreten, kann es der Partei nicht schaden, daß ein paar achtbare junge Leute dazukommen.«
Er rafft sich noch zu einem Kurzreferat auf, in dem er die Schwäche der westdeutschen Kommunisten den bürgerlichen Zeitungen anlastet, die über eine hundertjährige Propagandaroutine verfügten, da hätten wir noch was aufzuholen. Dann schlägt er eine Nachdenkzeit von vier Wochen vor, die ich auf eine Woche herunterhandeln kann. »Ich habe ein Hauptreferat zu schreiben, aber für dich setze ich eine Nacht dran. Gut, eine Woche. Ich melde mich. Wann bekomme ich das Tagebuch?« »Wenn alles vorbei ist«, sage ich. »Darauf soll ich mich verlassen?« sagt er. »Ja«, sage ich.
Sein Telefon darf wieder klingeln, und es klingelt. Ich stehe nach vier Stunden auf. Die Hosen kleben mir am Hinterteil. 20 Zigarettenstummel liegen im Aschbecher, Lamberz ist Nichtraucher. Wir verabschieden uns. Im Vorzimmer haben sich Leute angesammelt. Der Riese, der mich gebracht hat, begleitet mich hinunter. Alle Paternosterabteile sind mit ordentlich gekleideten Genossen besetzt. Der Fahrstuhl nebenan wird für mich aufgeschlossen. Auf dem ZK-Parkplatz halten einige Genossen mit Wagenaufschließen inne und verfolgen mich mit teils belustigten, teils ungläubigen Blicken. Ich steige in meinen Diesel und weiß ungefähr, was sie einander zuflüstern. Ich fahre nach Hause, leicht betrunken vom Cognac, benommen von all den Worten. Was mir im Kopf herumgeht, sind düstere Gedanken.
10. Mai 1977, Dienstag
Für eine Woche klemmen wir wieder die Pappe in die Telefonklingel. Ottilie singt, wenn sie in der Küche hantiert, das sind die besten Geräusche, die ich seit langem gehört habe. Ich sage es ihr. Und jetzt singt sie fast nur noch. Frau Engel stellt die Plastiksessel, die aussehen wie gewendete Schildkröten, auf die Terrasse, als wäre Frühling wie immer. Die Fliederbüsche waren noch nie so voller Blüten wie dies Jahr. Daniel ist bis Samstag in ein Kinderferienlager bei Oranienburg gefahren. Ottilie und ich spielen eine Runde Tavli, ein Brettspiel, das uns Jurek beigebracht hat.
Jurek ist oft bei uns, auch heute nachmittag. Am Abend kommt Müller-Stahl mit seiner Frau Gabi und erzählt, er habe ein Gespräch mit dem neuen Leiter der Abteilung Dramatik beim Fernsehen gehabt. Der neue Mann heißt Bentzien und war früher Kulturminister. Es sei ein angenehmes Gespräch gewesen, sagt Müller-Stahl, Bentzien
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