Abgehauen
mich nach Alaska oder sonstwohin gehen, ich werde so lange untertauchen, bis Ruhe eingekehrt ist.« Lamberz nimmt mich beim Wort: »Was willst du in Alaska?
Etwa so ähnlich leben wie Solschenizyn, der in Amerika in diesem Haus hockt und sich verstecken und bewachen lassen muß? Du gehörst in die sozialistische Welt. Dein Vater hat das Stahlwerk Brandenburg mit aufgebaut, was sagt denn der dazu?«
Er hat recherchiert, hat sich meine Familienverhältnisse und meine Herkunft kommen lassen. Was weiß der von meinem Vater. Mein Vater war in der Tat ein »Aktivist der ersten Stunde«. Wenn irgendwo ein Stahlwerk oder eine Gießerei am Boden lag, durfte er seinen Koffer packen und hinfahren. Er war gut genug, jede Karre aus dem Dreck zu ziehen. Er war verantwortungsbewußt genug, selbst am 17. Juni im Stahlwerk Brandenburg dafür zu sorgen, daß eine Notschicht gefahren wurde, damit die Öfen nicht einfroren. Er war nicht in der Partei, aber er war ein großartiger Chef, ihn haben sie sogar als Paradepferd nach Indien geschickt, um dort ein Werk aus den roten Zahlen zu bugsieren. Aber wehe, es ging mal nicht so glatt, wie sie es sich vorgestellt hatten, da fiel ihnen nur noch Sabotage ein. Und kaum war die Mauer gebaut, da kappten sie auch gleich die Hälfte von seinem Gehalt. So war das mit meinem Vater. Der hat zwölf Stunden am Tag gearbeitet, auch am Heiligen Abend, auch an Silvester, und der mußte nachts aus dem Bett, wenn im Werk was los war. Ich gehöre in die sozialistische Welt? Denkt Lamberz an ein anderes Land?
»Mein Vater«, sage ich, »hat immer im Leben zu mir gehalten. Auch wenn er meinen Schritt politisch nicht billigen würde, er würde mich verstehen. Der weiß, was geredet wird. Der weiß, in welcher Lage ich bin.« Ich muß meinen Vater heraushalten und andere Leute, deren Namen Lamberz in das Gespräch wirft. Er zuzelt stumm an seinem dunkelbraunen Weinbrand. »Ich bitte dich um alles in der Welt«, sage ich, »laß mich gehen. Wie soll ich es dir anders sagen? Ich kann doch nicht anfangen zu schreien. Ich kann meine Bitte nur immer wieder in freundlichem Ton vorbringen …« Lamberz: »Das will ich meinen. Wenn im Politbüro eine Umfrage gemacht würde, wer dort für den besten Freund von Krug gehalten wird, ich hätte mit Sicherheit alle Stimmen.«
Ich: »Leider kann es in einer solchen Situation unmöglich eine Freundschaft geben.«
Lamberz: »Doch! Warum wird mir hier die Freundschaft gekündigt? In einer so wichtigen Frage hättest du zu mir kommen können und sagen: Entweder alles das, was mich bedrängt, hört sofort auf, oder ich beantrage die Ausreise.« Ich: »Das wäre eine Erpressung gewesen. Und es wäre ein Gang zum Fürsten gewesen. Du hast das Verständnis für Leute verlernt, die einfach nur den Instanzenweg gehen wollen. Hast du nicht den Wunsch nach Veröffentlichung unserer Petition eine Erpressung genannt? Das war eine solche Entweder-Oder-Alternative, wie du sie nun plötzlich vorschlägst: Entweder ihr veröffentlicht im NEUEN DEUTSCHLAND, oder wir veröffentlichen im Westen. Das ist uns nicht gut bekommen.«
Lamberz: »Diese Petition ist eine Farce. Die Regierung hat sie bis heute nicht erhalten! Bis zum heutigen Tag liegt das Schriftstück gar nicht vor.«
Ich: »Es war auch nicht an euch geschickt worden, Adressat war das NEUE DEUTSCHLAND, und zwar mit der Bitte um Veröffentlichung. Es war der Versuch einer öffentlichen Mitteilung an die Regierung. Du solltest nun nicht länger auf den Text der Petition warten.«
Lamberz: »Tausende von Ausreiseanträgen werden zurückgezogen. Da redet kein Mensch drüber. Du wirst deinen auch zurückziehen.« Ich: »Nein, das werde ich nicht tun. Ich habe Angst …«
Lamberz: » … Das ist doch Unsinn …«
Ich: »Ich habe Angst vor dem § 220 und vor dem Leben, das auf mich zukommen würde.«
Lamberz: »Du solltest Angst vor dem Leben haben, das da drüben auf dich zukäme. Nein, ich werde dich schützen, ich werde bis zum letzten um Manfred Krug kämpfen.«
Ich: »Heißt das, daß du mich mit Gewalt zu meinem Glück zwingen willst?«
Lamberz: »Ja. Manch einen muß man zu seinem Glück zwingen.«
Ich sitze vor diesem Mann, den dritten großen Auslese im Magen, und werde mir darüber klar, was Macht ist. Der hat mich in der Hand, das ist die schlichte Wahrheit. Ich muß mich beherrschen wie eine Geisel, die ihrem Gegenüber abwechselnd in die Augen und in den Pistolenlauf sieht. Vor der Biermann-Ausweisung hatte ich
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