Abgekanzelt: Ein Büro-Roman (German Edition)
Kino gegangen. Vorher hatten sie noch eingekauft, mein Vater in seiner Jeanslatzhose, die mit Lack und Mennige beschmiert war, meine Mutter sicher in einem leichten Kleidchen, wenn man bedenkt, dass Sommer gewesen sein muss, Spätsommer, wenn ich richtig gerechnet habe, Kino und dann Abendessen, beziehungsweise Kino und dann nach Hause, Nachtmenschen waren sie nämlich nie, vielleicht sind sie auch nirgendwohin gegangen, sondern den ganzen Abend zu Hause geblieben und haben sich Sketche von Carlo Verdone angeschaut oder einen Film mit John Wayne – mein Vater war verrückt nach John Wayne, meine Mutter weniger, aber sie hat sich neben ihn aufs Sofa gesetzt und ist eingeschlafen, vielleicht hat alles dort begonnen, auf dem Sofa, ein Kopf an eine Schulter gelehnt, eine Hand auf einem Schenkel, und dann, eins ergibt das andere, und siehe da. Es interessiert mich wirklich brennend: Was haben meine Eltern an jenem Tag gemacht, bevor sie mich gezeugt haben?
»Herr Anwalt?«
Ich muss sie bei Gelegenheit danach fragen.
»Herr Anwalt?«
Wer weiß.
»Herr Anwalt Campi …«, wiederholt Boraletti verärgert.
»Ja?«, antworte ich und reiße die Augen auf.
»Ich muss doch um ein wenig Aufmerksamkeit bitten. Meine Frage lautet: Bist du einverstanden?«
»Na klar. Sicher doch, würde ich sagen.« Ich schaue zu Giuseppe hinüber, um in seinen Augen Bestätigung zu finden. Dann widme ich mich wieder meinen Gedanken, während sich Boraletti erneut in das Wirrwarr seiner Argumente stürzt.
Die Mannschaft von Meyon & Tolsen ist erst vor einer Stunde gelandet. Sie hatten schon am Kristalltisch in dem Sitzungssaal gesessen, den das Hotel uns zur Verfügung stellte, hatten gegähnt und ihre knirschenden Knochen gestreckt, als wir von der Mall of the Gods zurückkamen. Donato riss die Tür auf und fuchtelte mit der Hand herum.
»Tausendsechshundert Euro. Da sag mal einer, dass das kein Schnäppchen ist. Eine Rolex Daytona für tausendsechshundert Euro. Da sprechen doch die Fakten für sich.«
Boraletti deutete aus der Mitte seiner Mannschaft heraus einen Gruß an, schien aber wenig überzeugt und blieb stur an seinem Stuhl kleben. Zu seiner Rechten saß ein hagerer Typ – ein gewisser Nathan –, der wie ein goldbraun geröstetes Toastbrot im rechten Moment hochsprang und sich dann als der Chef von irgendetwas vorstellte, das niemand verstand, weil jeder damit beschäftigt war, sich nach der Begrüßung die Hand abzuwischen. Links von Boraletti gab sich eine wunderschöne Frau keinerlei Mühe, ihre Beine zu verstecken, und ich konnte nicht umhin, sie durch den Kristalltisch hindurch einer Reihe prüfender Blicke zu unterziehen. Ich lächelte, dann schluckte ich, dann lächelte ich wieder, während Cardellini sich zu ihr hinabbeugte und sagte: »Du bist Emily, nicht wahr? Cardellini, angenehm.«
»Cardellini und wie weiter?«, fragte Emily.
Cardellini stutzte einen Moment.
»Ja richtig. Äh …Valerio. Valerio Cardellini.«
»Valerio?«, mischte ich mich ein. »Du heißt Valerio? Unglaublich. Du hast also einen Vornamen. Schau mal einer an.Valerio. Valerio Cardellini.«
»Andrea«, murmelte Emily vorwurfsvoll und kniff mich in den Arm. »Wie geht es dir?«
Ihre Frage begleitete sie mit zwei Küsschen, und ich spürte, dass ich unter den fragenden Blicken von Giuseppe und Donato rot wurde. Dass sie sich mit den Ellbogen anstießen, entging mir keineswegs.
»Gut«, antwortete ich. »Gut, so weit. Ich … Ich konnte es kaum erwarten …« Und während ich noch nach den richtigen Worten suchte, spürte ich Giuseppes Hand auf meiner Schulter und sah Emily forthuschen, bevor Giuseppe sie auch noch an sich drücken würde.
»Da sind sie ja immer noch alle beide«, sagte Giuseppe mit einem wohlgefälligen Lächeln. »Wie schön es doch ist, diese jungen, karrierebewussten Leute zu sehen. Da erzähl mir noch mal einer etwas von einer Wertekrise. Von wegen. Ich sehe euch und …«, er schüttelte den Kopf, »… bin gerührt. Auf, auf, wischen wir alle Zweifel beiseite und greifen wir nach der Zukunft.«
Traditionsgemäß eröffnet Boraletti die Sitzung mit einer langen Ansprache, deren Idiom vermutlich den Kebab-Buden der Londoner Vororte abgelauscht ist. Er quält sich nicht unerheblich mit dem Balanceakt zwischen seinen juristischen Höhenflügen und den heiklen Erfordernissen der englischen Sprache, nach welcher die Anwesenheit von Rashid und Nathan verlangt. Tatsächlich erstickt Rashid alle möglichen Ambitionen bereits im
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