Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
reichte aus, um ihn, am Schopf gepackt, wieder an die Oberfläche zu ziehen. Sobald er den Kopf über Wasser halten konnte, tastete Herzfeld nach den Schultern, bis er endlich einen Arm gefunden hatte.
»Atme, hörst du mich?«, schrie er ihn an. Mit einer Hand an den Haaren, mit der anderem am Oberarm gepackt, konnte Ingolf zwar nicht wieder untergehen, aber auch nicht aus dem Wasser gezogen werden.
Okay, denk nach.
Herzfelds Gedanken rasten, und dabei schrie er mit Durchhalteparolen auf Ingolf ein, der zwar die Augen offen hatte, aber immer teilnahmsloser wirkte. Seine vollgesogenen Kleider und die fehlende Spannkraft seines Körpers führten dazu, dass Ingolf sich wie eine lebende Leiche anfühlte. Aber immerhin versuchte er noch zu kommunizieren.
»Schaff … es … nicht«, murmelte er müde.
»Doch, doch, doch. Gib bloß nicht auf, das schaffst du.«
Aber wie nur, verdammt?
Herzfeld spürte, wie auch ihm die Kälte immer tiefer in die Haut schnitt, je länger er hier auf dem Bauch lag. Teile seines Oberkörpers fühlten sich taub an, andere brannten wie Feuer. Zudem schwappte immer mehr Eiswasser über die Kante und durchnässte nun auch seine Kleidung.
»Nicht ohnmächtig werden, hörst du?«
Ingolf hatte noch nicht das Bewusstsein verloren, aber seine Bewegungen wurden immer träger und wirkten wie ein unbewusstes Zucken im Traum. Seine Finger wurden schlaff und drohten sich aus denen Herzfelds zu lösen.
Herzfeld biss die Zähne zusammen, lockerte seinen Griff und nahm in Kauf, dass der Praktikant wieder untertauchte, was sich schnell als Fehler erweisen sollte. Denn noch bevor Herzfeld seinen letzten verzweifelten Plan in die Tat umsetzen und sich zur Seite drehen konnte, war Ingolf ihm erneut entglitten, und diesmal trieb er mit dem Kopf voran unter die Eisfläche.
34. Kapitel
Helgoland.
D as Licht in der Pathologie war wieder an, aber das machte die Sache nicht besser. Die Gefahr, der Linda sich ausgesetzt sah, war wie Radioaktivität. Unsichtbar und dennoch allgegenwärtig.
Noch immer brannte die Haut an der Stelle, an der jemand sie in der Dunkelheit berührt hatte. Noch immer verspürte Linda das Bedürfnis, wild um sich zu schlagen, so wie sie es vor wenigen Minuten getan hatte.
Als das Licht ausgefallen war.
Dabei hatte sie in ihren ziellosen Abwehrversuchen im Dunkeln nichts getroffen außer dem Instrumententisch, der mit großem Getöse umfiel, nachdem sie in einem Fluchtreflex gegen ihn gestolpert war. Gemeinsam mit ihm ging sie zu Boden.
Der Lärm war ohrenbetäubend gewesen und klang ihr jetzt noch in den Ohren.
Kein Geräusch dieser Welt kann furchterregender sein,
hatte Linda gedacht, bis sie das Knirschen gehört hatte – der typische Laut, den Ledersohlen auf einer harten Oberfläche erzeugen.
Linda hatte an ihren Vater denken müssen, der für Kleider nur wenig Geld ausgab, bei Schuhen aber eine Ausnahme machte …
»Denn an den Schuhen erkennt man, wie stabil ein Mann im Leben steht, Liebes.«
Und man hört, wie nah ein Mörder in der Dunkelheit ist.
Das Knirschen war erst leiser geworden, dann kam es wieder zurück, und Linda hatte nicht groß darüber nachgedacht, wie sie sich verhalten sollte. Angst ist wie ein schlecht dressierter Kampfhund, den man nicht an der Leine halten kann, wenn er Blut wittert. Sie bricht aus, unkontrolliert und so intensiv wie eine Naturgewalt, sobald man sich dem Tode nahe fühlt, und in dieser Extremsituation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Angriff oder Flucht. Linda wählte Letzteres. Ohne aufzustehen, war sie im Sitzen nach hinten gestrampelt. Weg, nur weg von den knarzenden Schuhen, die immer näher kamen …
weit, weit weg …
bis es nicht mehr weiter nach hinten ging, weil sie mit dem Rücken an einer Heizung angelangt war. Etwa in diesem Moment verklangen die Geräusche. Im Sektionssaal herrschte eine völlige Stille. Selbst das elektrostatische Summen der Lampen war verschwunden.
»Sieh einem Mann auf die Füße, nicht in die Augen, wenn du seinen Charakter lesen willst.«
Linda kam eine weitere Erinnerung, diesmal an den Zitatenschatz ihrer Mutter, die jetzt vermutlich gerade die Schnittchen zubereitete, die ihr Vater jeden Samstag zur Sportschau vor dem Fernseher aß.
Wieso nur habe ich mich so selten dazugesetzt?,
schoss es ihr in einer Mischung aus Verzweiflung und Wehmut durch den Kopf; ein unsinniger Gedanke in einer surrealen Situation: allein, in vollständiger Finsternis hockend, zwischen zwei Leichen auf dem
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