Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
fragte Ingolf und drängte sich an Herzfeld vorbei, als auch sie das Ende des Bootsstegs erreicht hatten und sich vor ihnen nichts als die Eisfläche des Sees erstreckte. Die Spuren der Schubkarre waren nicht mehr zu erkennen. Hier draußen, gut zwanzig Meter vom Ufer entfernt, wehte der Wind noch heftiger und schnitt wie ein Skalpell in die Finger, mit denen Herzfeld den Monitor hielt.
»Mag sein.« Er konnte nicht erkennen, was da etwa in der Mitte des Sees im Dämmerlicht auf der Eisdecke stand. Die Lichtverhältnisse zum Zeitpunkt der Videoaufzeichnung waren wesentlich besser gewesen als jetzt, doch der Winkel der Kamera erfasste nicht den dunklen Gegenstand.
»Ich geh mal nachsehen«, sagte Ingolf, und bevor Herzfeld es verhindern konnte, trat er über die Schwelle aufs Eis.
»Warte noch«, wollte er ihm nachrufen, da hatte der Praktikant sich schon schlitternd in Bewegung gesetzt.
»Die Sonne ist bald verschwunden«, rief er und zeigte, ohne sich umzudrehen, nach oben auf die geschlossene, grauschwarze Wolkendecke. »Noch ein paar Minuten, und wir sehen hier gar nichts mehr.«
»Bleib da!«, wiederholte Herzfeld seine Warnung und wollte schon den Bildschirm auf den Steg legen, um Ingolf zu folgen, als Martineks Stimme ihn davon abhielt.
»Hallo, mein Lieber.«
Er klang herzlich, nahezu feierlich, und etwas Wehmut schwang in der Aufnahme mit, daher wusste Herzfeld, dass die Worte nicht an ihn gerichtet sein konnten, lange bevor er die große Hand des anderen Mannes sah, die auf der Bildfläche erschien. Es folgte ein langer und fester Händedruck.
»Sieht aus wie ein Kreuz«, hörte er Ingolf rufen, doch Herzfeld hatte im Augenblick nur Augen und Ohren für die Ereignisse auf dem Bildschirm.
»Dann soll es also so sein?«, fragte Martinek, nachdem er die Hand des Unbekannten wieder losgelassen hatte.
Der körper- und gesichtslose Fremde gab keinen Ton von sich. Vermutlich hatte er genickt, denn jetzt griff Martinek wieder nach der Schubkarre, drehte sie um neunzig Grad und zog sie an den Griffen nach oben.
»Er bringt mich um, wenn du nicht genau das tust, was er sagt«,
erinnerte sich Herzfeld an die Mailboxansage.
»Er kontrolliert jeden deiner Schritte.«
Hatte sie ihm damit zu verstehen gegeben, dass Martinek einen Komplizen hatte? Einen Partner, der in dem Augenblick, in dem die Aufnahme gemacht worden war, neben Martinek stand und dabei zusah, wie der Leichensack langsam von der Schubkarre rutschte und mit einem satten Plumps in ein frisch geschlagenes Eisloch fiel?
»Nein«, schrie Herzfeld, während der Leichensack in der Dunkelheit des Sees verschwand.
Ich habe doch getan, was ihr wolltet!
Ingolf, der den Schrei irrtümlich auf sich bezog, blieb gut zehn Meter von dem Bootssteg entfernt stehen, aber das konnte ihn jetzt auch nicht mehr retten. Es war zu spät.
»Warte«, schrie Herzfeld erneut und legte den Monitor auf die Bohlen des Stegs. Ingolf hatte das Kreuz erreicht.
»Du stehst zu dicht dran.«
»Was mache ich?«, fragte Ingolf, und dann passierte es.
Es knackte so laut, als hätte ein Jäger auf der anderen Seite des Ufers ein Gewehr abgefeuert, dann brach Ingolf von Appen durch die Eisdecke ein und versank genauso schnell darunter wie kurz zuvor der Leichensack auf der Videoaufnahme.
33. Kapitel
D ie Eisdecke war trotz der fast arktischen Temperaturen noch nicht fest genug zugefroren, was an den warmen Strömungen des Sees liegen konnte, von denen Martinek ihm einmal vorgeschwärmt hatte. Anders konnte Herzfeld es sich nicht erklären, weshalb das Eis unter Ingolfs Gewicht geborsten war. Quälend lange Sekunden verstrichen, in denen der Praktikant nicht mehr auftauchte.
»Hilfe«, schrie Herzfeld, während er sich vorsichtig auf allen vieren auf das kantige Loch zuschob. Der See wie das Ufer waren verlassen, Retter nicht in Sicht, dennoch wollte er nichts unversucht lassen, um auf sich aufmerksam zu machen. Er tastete nach seinem Handy.
Verdammt, ich hab es auf dem Schrein liegenlassen.
Herzfeld überlegte verzweifelt, ob ihm die Zeit blieb, über den Steg zum Ufer ins Bootshaus zurückzurennen, um dort nach Gegenständen zu suchen, die er bei seinen Rettungsversuchen gebrauchen könnte: das Handy, ein Seil, das Ruder oder eine Leiter, auf die er sich legen könnte, um sein Gewicht auf dem Eis besser zu verteilen. Er entschied sich dagegen.
Als Mediziner wusste er, dass bei einem Menschen direkt nach dem Eintauchen in eisiges Wasser ein Atemreflex ausgelöst wird,
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