Abgeschnitten: Thriller (German Edition)
Boden einer stillgelegten Pathologie.
Und dann hatte sie das Aftershave gerochen. Das gleiche Aftershave wie gestern auf dem Kissen in ihrem Bett.
Oh Gott, war das wirklich erst gestern gewesen?
Nur dass es sich heute mit dem Geruch der Leichen auf den Sektionstischen vermischte.
Danny?
Sie hatte den Reflex unterdrückt, den Namen des Stalkers laut in den Raum zu schreien, obwohl sie sich sicher gewesen war, dass – wer immer hier mit ihr in der Pathologie war – ganz genau wusste, wo er sein Opfer finden konnte.
Mit der Hand auf den Mund gepresst und angehaltenem Atem hatte sie auf Geräusche geachtet, die nun nicht mehr an ihr Ohr drangen, dafür wurden die Gerüche intensiver, obwohl das auch Einbildung gewesen sein konnte; eine Sinnestäuschung, provoziert durch die archaische Furcht vor dem Unsichtbaren. Ihre Knie begannen zu zittern, so stark, dass ihr linkes Bein ausschlug, bevor sie es festhalten konnte, und deshalb war sie sich nicht sicher, ob sie oder der Unsichtbare das Messer mit dem Fuß berührt hatte.
Von diesem Moment an hatte sie alle Vorsicht fahrenlassen, um an die Waffe zu gelangen.
Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Knie, tastete in der Dunkelheit mit hastigen, unkoordinierten Streichbewegungen auf dem Fußboden nach dem Messer und schnitt sich in den Handballen, als sie es endlich an der Schneide zu packen bekam, doch das war ihr in diesem Moment egal.
Du musst es wie einen Dolch halten,
hatte Herzfeld ihr vorhin geraten, und genauso hielt sie es jetzt. Hier, in diesem Moment, seitdem das Licht genau in der Sekunde wieder aufgeflammt war, als sie gerade zum Stich hatte ausholen wollen, weil sie sich sicher gewesen war, dass das Gesicht ihres Angreifers nur noch wenige Zentimeter von ihrem eigenen entfernt sein konnte. Doch als es schließlich so weit war, als das Licht wieder anging, war die Gefahr verschwunden.
Nichts.
Keine Lederschuhe. Kein Aftershave. Kein Danny.
Niemand.
Sie war allein mit sich und dem Geruch und den Toten und ihrer nicht abebben wollenden Angst, die – im Gegenteil – sogar noch größer wurde, als sie nach einer Weile das erste Mal zu Boden sah.
Auf den ersten Blick konnte sie sich gar nicht erklären, weshalb ihr Magen sich so heftig zusammenzog, bis sie den Fehler in dem Bild erkannte: Unten, auf den Steinfliesen, lagen zwei Pinzetten, eine Ablageschale, Gummihandschuhe und weitere Sektionsutensilien. Ihr Messer hielt sie in der Hand, weswegen es nicht im Durcheinander bei den anderen Instrumenten liegen konnte.
Aber wo war das zweite?
Linda bückte sich kurz, nicht zu lange, aus Furcht, die Tür, durch die die Gefahr den Saal verlassen haben musste, zu lange aus den Augen zu verlieren, aber sie konnte es nicht finden. Das zweite Seziermesser war ebenso verschwunden wie der Hausmeister, der erstaunlich lange dafür benötigte, um vom Hauptschaltraum wieder zurückzukommen.
Verdammt, Ender, wo steckst du nur immer, wenn man dich braucht?,
dachte Linda noch, als sie plötzlich das Schlurfen seiner Stiefel auf dem Gang hörte.
»Ender?«, rief sie, zuerst erleichtert, weil sie seinen Schritt wiederzuerkennen glaubte, auch wenn er ihr etwas langsam erschien. Dann schlug die Erleichterung in Freude um, als er tatsächlich in der Tür auftauchte.
»Gott sei Dank!« Sie wollte ihm schon einen Vorwurf machen, dass er sie so lange allein gelassen hatte,
allein mit dieser unsichtbaren Gefahr,
als sie das zweite Sektionsmesser entdeckte.
Es steckte in Enders Hals.
35. Kapitel
Zarrentin.
S chritt für Schritt ließ Herzfeld das Loch im Eis immer weiter hinter sich. Er wusste, er durfte nicht anhalten, nicht absetzen, keine Pause machen, denn einmal ausgebremst, würde er sich nie wieder in Bewegung setzen, nie wieder gegen die Schmerzen in seinen Armen, Beinen und gegen die Kälte ankämpfen können. Und er würde das rettende Ziel niemals erreichen, sondern erschöpft auf dem Steg zusammenbrechen und erfrieren.
Gemeinsam mit Ingolf.
»Nicht schlappmachen«, keuchte er mehr zu sich selbst als zu der Last auf seinen Schultern. Er trug Ingolfs schlaffen Körper wie einen Kohlesack, dessen Mantel er als unnützen Ballast bereits an der Unglücksstelle zurückgelassen hatte.
Der Sohn des Innensenators war zum Glück nicht so schwer, wie seine Körpergröße vermuten ließ, aber allein der Gegenwind machte den Weg zur Tortur. Jacke, Hose, Schuhe – alles war vom Eiswasser durchnässt und drohte auf Herzfelds Haut zu gefrieren, wenn sie nicht bald
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