Abgründe (German Edition)
genug, um alles, was Ames ihr angetan hatte, zu vergessen. Immerhin war jetzt alles gesagt. Sie konnten vielleicht ganz von vorn anfangen.
Eine Familie zu haben, das war doch nichts Verkehrtes. Was war die Alternative? Wenn er Evangeline tötete, würde sein Vater ihn erschießen, da war er sich sicher. Dabei wollte Ames doch gar nicht sterben. Er wollte einfach nur die Bilder loswerden, länger als für die paar Tage, die sie nach jedem Mord weg waren.
Tränen verschleierten seinen Blick und er nahm die Hand mit dem Messer, um sie fort zu wischen. In diesem Moment machte Evangeline den entscheidenden Fehler.
Fassungslos beobachtete Ethan, wie Evangeline sich mit all ihrer Kraft nach hinten warf. Der Stuhl kippte, dann knallte sie fest auf den Boden.
Haley fing sich, indem er Halt an der Wand links neben sich suchte. Der Aufprall des Stuhls ließ den Holzboden knacken wie trockene Äste. Haleys Gesicht, das zuletzt fast weich gewirkt hatte, wurde zu einer harten, zornigen Maske und er zog offensichtlich den einzig richtigen Schluss.
»Du Miststück! Ihr wolltet mich reinlegen!« Mit einem wütenden Schrei, der dem eines verwundeten Tieres glich, hob er die Kettensäge auf und warf sie über Evangelines reglosem Körper an.
Ethan dachte jetzt nicht mehr nach, dazu blieb ihm keine Zeit. Er wusste, Haley war zu allem entschlossen und er selbst musste es auch sein. Er bückte sich, zog die 38er aus dem Beinholster, zielte und drückte ab. Haley sah blitzschnell zu ihm herüber. Seine Augen waren weit aufgerissen und eine Anklage stand darin.
Sein getroffenes Knie gab nach und sein Gleichgewichtssinn reichte nicht mehr aus, um die Last der Säge über dem Kopf zu balancieren. Er stolperte zur Seite, ließ seine Mordwaffe los und stürzte. Unter seinem Gewicht gaben die morschen Holzdielen endgültig nach. Mit einem lauten Krachen brachen die Dielen und Haley stürzte in die Tiefe. Die Säge landete knapp neben Evangelines Körper. Ethan war mit einem Satz bei ihr und schaltete sie ab. Sie öffnete benommen die Augen und blickte Ethan voller Schmerz an. Erst jetzt sah er, dass ihr T-Shirt von Blut durchtränkt war.
Er riss das Klebeband von ihrem Mund. Sie ließ ein erleichtertes Seufzen hören, dann verlor sie das Bewusstsein. Ethan starrte sie für einen Moment fassungslos an, dann drehte er langsam den Kopf und blickte herunter in das knapp zwei mal zwei Meter große Loch im Boden.
Haleys Körper lag ausgestreckt zwischen zersplittertem Holz. Seine Augen waren geschlossen, aber das änderte nichts an dem Ausdruck, der in seinem Gesicht lag. Es war ein Ausdruck von tiefer Enttäuschung und unbeschreiblichem Schmerz.
-107-
Ethan verließ das kühle Gebäude und warme Spätsommerluft schlug ihm entgegen. Er setzte seine Sonnenbrille auf, bevor er den Blick hob und Evangeline anlächelte, die in seinem G6 auf ihn wartete. Sie hatte sich in den vergangenen zwei Monaten relativ gut erholt, sowohl physisch als auch psychisch. Die Narben an ihrem Körper, teils sichtbar, teils verdeckt durch das Sommerkleid, das sie trug, waren verblichen und den Schnitt an ihrem Hals versteckte sie unter einem dünnen Schal.
Ihre Rehaugen sahen Ethan besorgt entgegen. Auch wenn sie es selbst nicht fertig brachte, Haley zu begegnen, wartete sie jedes Mal geduldig im Wagen, während er ihn besuchte. Nach dem Vorfall in seinem ehemaligen Elternhaus in Detroit saß Haley in der psychiatrischen Gefängnis-Einrichtung in Richmond ein. Der Sturz durch die morschen Dachbalken hatte ihn Gott sei Dank nicht getötet, jedoch so schwer verletzt, dass ihm die Todesstrafe erspart blieb. Durch den Aufprall hatte er einen cerebralen Hirnschaden erlitten, konnte sich weder artikulieren noch seinen Körper kontrollieren. Er war ein kompletter Pflegefall, der nicht mehr für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden konnte.
Ethan gab sich gleichermaßen die Schuld an Haleys Schicksal und dem seiner Opfer und befand sich deshalb selbst in psychologischer Behandlung bei niemand Geringerem als Doktor Jermyn.
Der Captain hatte ihn beurlaubt, was Ethan diesmal klaglos akzeptiert hatte. Donovan und Gladys waren ihm noch bessere Freunde als sie es ohnehin schon gewesen waren und Evangeline gab ihm beinahe mehr Kraft als er ihr. Er hatte sich mehrfach mit ihr ausgesprochen und sie hatte ihm schließlich unter der Bedingung verziehen, dass er sich ab sofort vom Pavilion Drive fern hielt und absolut ehrlich zu ihr war.
Ethan wandte sich noch
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