Abgründe (German Edition)
Chaos in seinem Leben hatte er sich eine gewisse Jungenhaftigkeit bewahrt, die ihm normalerweise zugute kam, wenn er Frauen beeindrucken wollte. Eine kleine Narbe an der linken Braue zeugte von einem Angriff mit einer Bierflasche bei einem seiner ersten Einsätze als junger Streifenpolizist und gab seinem Gesicht etwas Verwegenes. Als er jedoch begann, die Züge seines Vaters in seinem Gesicht zu entdecken, löste er sich vom Spiegel, wandte sich zur Tür und verließ die Toilette.
Der Bürgermeister – der schon gesprochen hatte – Donovan, Dewey und Mason standen Spalier in Richtung der Lobby, wo die Pressekonferenz schon in vollem Gange war. Sie sprachen ihn nicht an, wofür er ihnen dankbar war.
Auf einem kleinen Podest ließ sich momentan Mathew Cooper, der Captain der Homicide Unit, über das Grauen, welches in Virginia Beach Einzug gehalten hatte aus.
Gladys wartete etwas abseits. Sie sollte mit Ethan gemeinsam, stellvertretend für die gesamte Mordkommission, vor die Presse treten, weil der Bürgermeister glaubte, dass sich der Auftritt einer attraktiven, schlagfertigen Polizistin, die professionell distanziert zu den Ereignissen stand, gut machen würde.
Ethan stellte sich zu ihr und betrachtete die Pressemeute. Unbedarfte Reporter in geblümten Hemden hinten, Bluthunde von der Times und der Post ganz weit vorn. Eine Blondine mit langen, violetten Fingernägeln, die konzentriert auf die Tasten eines kleinen Netbooks einhämmerte, fiel Ethan ins Auge. Sie erinnerte ihn an Jillian, aber er verscheuchte den Gedanken. Donovan warf ihm stets vor, Beruf und Privatleben nicht trennen zu können. Vermutlich hatte er Recht.
Gladys interpretierte seinen unglücklichen Gesichtsausdruck falsch und lächelte ihn aufmunternd an. Je stressiger es wurde, desto mehr genoss sie ihren Job.
»Ich habe gestern Nacht noch diese Sünden- und Bibelspinner-Nummer überprüft«, flüsterte sie. »Negativ, wenn du mich fragst. Das ist alles viel zu vage. Wenn es ihm wirklich darum ginge, Sünder auszulöschen, dann hätte er sich vermutlich andere Opfer gesucht.«
Ethan nickte. Es war eine Spekulation wert gewesen, obwohl es auf ihn von Anfang an beinahe zu klischeehaft gewirkt hatte. Fahrig strich er sich das dunkle Haar zurück. Seit er heute Morgen von der neuesten Entführung erfahren hatte, jagte Adrenalin durch seinen Körper und er konnte seine Nervosität nur schwer kontrollieren. Hoffnung, dass hinter der Entführung diesmal nicht der Killer steckte, wechselte sich ab mit Schreckensvisionen, die sich zusammensetzten aus alten Tatortfotos und den gängigen Vorstellungen dessen, was ein wahnsinniger Serientäter mit seinen Opfern anstellte. Er wollte etwas tun. Er wollte Roxanna Johnsonn retten.
»Und damit übergebe ich an den leitenden Ermittler, Detective Ethan Hayes und seine Mitarbeiterin Detective Gladys Larkin«, riss ihn Coopers Startschuss aus seinen Gedanken.
Verhaltener Applaus. Blitzlicht. Ethan und Gladys tauschten die Plätze mit ihrem Boss. Die Mikrofone bildeten einen Halbkreis, die Fernsehkameras schienen ihn anzustarren.
Der Bürgermeister hatte ihn gebeten, die Zuhörer zu beschwichtigen und die Sache herunterzuspielen, damit niemand in Panik geriet, aber war das die richtige Vorgehensweise? Wollte er, dass die Menschen arglos waren? So arglos wie Grace, Tiffany, Ava und Roxanna? Es konnte manchmal verdammt schwer sein, die richtigen Worte zu finden. Ethan besaß weder Galgenhumor, mit dessen Hilfe er die Situation auflockern konnte noch die kalte Arroganz eines Wissenschaftlers, der durch ein paar kluge Worte aus Tragödien Fakten zu machen vermochte. Er beschloss, einfach das darzustellen, was er war. Einen Detective, der einen Serienmörder fangen wollte. Jemanden, der jedes weitere Opfer persönlich nahm.
»Ich könnte Sie jetzt beruhigen, die Gefahr herunter spielen, Ihnen so etwas sagen wie ‚Machen Sie sich keine Sorgen, wir haben alles unter Kontrolle’«, begann er. »Aber die Wahrheit ist, dass da draußen ein Monster herumläuft, das es auf Frauen aller Altersgruppen und aller sozialen Schichten abgesehen hat. Der Täter entführt diese Frauen, quält sie, tötet sie und verspottet sie, indem er ihre Körper der Öffentlichkeit preisgibt!«
Ein Raunen ging durch die Menge und Ethan konnte förmlich spüren, wie der Bürgermeister ihn mit Blicken durchbohrte.
»Wir wissen noch nicht, wer die Resort City-Bestie – wie Sie den Täter bezeichnen – ist, aber wir wissen, dass dieser
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