Abgründe (German Edition)
nervös. »Midleton Very Rare. Mein einziges Laster. Sauteuer, das Zeug.« Wie ferngesteuert nahm Roxannas Ehemann zwei polierte Whiskybecher von einem zweiten, niedrigeren Hängeregal. Die Anspannung, die in seinen Bewegungen lag, war nicht zu übersehen. »Trinken Sie einen mit?«
»Immer gern.« Donovan trat herüber zu Sean Johnsonn, während Ethan in der Nähe der Tür stehen blieb. »Aus welcher Gegend in Irland stammt Ihre Familie?«
»Portstewart, das ist ganz im Norden.«
»Tatsächlich? Meine Großeltern kamen aus Killarney. Schon mal gehört?«
Ethan wusste, dass Donovan log. Seine Familie stammte aus der Nähe von Belfast, aber sein Partner wollte keine eventuellen religiösen Konflikte riskieren.
Johnsonn goss zwei Gläser teuren Whisky ein und reichte eins davon Donovan.
»Setzen wir uns doch.« Donovan wies auf die Sitzgruppe, die gut die Hälfte des hellen Wohnzimmers einnahm.
Ethan fiel auf, wie liebevoll der Raum dekoriert worden war. Bis auf ihre mysteriösen Ausflüge nach Hampton war Roxanna anscheinend eine vorbildliche Hausfrau, Ehefrau und Mutter.
Johnsonn nahm Platz und warf Ethan einen finsteren, fast vorwurfsvollen Blick zu. Er beschloss, draußen zu warten.
-31-
Die Befragung von Sean Johnsonn und der vorangehende Stau hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als Ethan gedacht hatte und weniger gebracht, als er gehofft hatte. Johnsonn hatte allem Anschein nach wirklich nichts von den Ausflügen seiner Frau geahnt. Zumindest hatte er selbst nach dem fünften Jameson noch darauf beharrt.
Jetzt war es beinahe siebzehn Uhr und Ethan hatte nur wenige Minuten Zeit, sich umzuziehen und zurück ins Dezernat zu fahren, um sich dort den bohrenden Fragen der Presse zu stellen. Als er das Haus betrat, erblickte er Haley, der grinsend auf den Stufen nach oben saß und bereits das Tennis-Outfit mit dem Logo seines Colleges trug.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du es noch pünktlich schaffst!« Haley stand auf und schnappte sich seinen Tennisschläger.
Ethan verzog das Gesicht und sah seinen Sohn bedauernd an. »Haley«, begann er vorsichtig. »Gleich um sechs muss ich eine Pressekonferenz geben, wegen der Mordfälle...«
Haleys Grinsen verschwand.
»Entschuldige. Ich habe heute Mittag erst davon erfahren.«
»Wie soll ich denn jetzt zum Match kommen? Ich habe Steve meinen Wagen geliehen!« Haley zuckte mit den Achseln. »Dann musst du mir wohl Geld für’s Taxi geben.«
Ethan atmete durch und dachte nach. Wenn er sich auf der Toilette des Polizeireviers umzog, konnte er Haley vorher am College absetzen und trotzdem pünktlich zur Pressekonferenz kommen. Vorausgesetzt, der Verkehr spielte mit.
»Ich fahre dich hin. Und zurück nimmst du dir ein Taxi, okay?«
Haley nickte. »Na schön, dann lass uns.«
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Die Presse von Virginia war nicht wie die blutrünstige Meute aus New York oder Washington D.C., wo Mord praktisch an der Tagesordnung war. Es waren hauptsächlich Reporter in Hawaiihemden, die große Augen machten, weil sich im ruhigen Virginia Beach plötzlich so ein Spektakel abspielte. Das Problem stellten vielmehr die Journalisten von außerhalb dar, die nur darauf warteten, mit ihren Smartphones reißerische Schlagzeilen an die Welt schicken zu können. Von Mord zu Mord waren mehr von ihnen angereist und jetzt, nach Entführung Nummer vier, wurde die Virginia Beach-Mordserie langsam zu einer großen Sache.
Doppelmorde gab es viele in den USA und noch mehr in der Welt. Dreifachmorde sorgten ebenfalls kaum mehr für Aufsehen: Ein ehemaliger Kinderstar, der drei Menschen tötete genau so wenig wie eine zwölfjährige Kanadierin, die ihre ganze Familie auslöschte. Gut für ein paar Titelstorys, aber alles in allem schnell vergessen. Doch das hier erschien den Reportern erfolgversprechend und so lauerten sie auf jede Einzelheit.
Ethan fragte sich nach wie vor, wer der Presse-Informant war, der über Roxanna Johnsonns Verschwinden unerlaubt Auskünfte erteilt hatte. Er würde noch einmal mit dem gesamten Team darüber sprechen müssen. Allerdings erst nach dieser nervtötenden Konferenz.
Auf der Toilette seiner Abteilung, einem winzigen Abstellraum mit einer einzigen Toilette, einem Waschbecken und einem Spiegel lockerte Ethan den Knoten der Krawatte, die er eigentlich hatte tragen wollen. Er kam sich albern damit vor, also ließ er sie weg, öffnete den obersten Knopf seines dunklen Hemdes und betrachtete sich prüfend. Trotz seiner achtunddreißig Jahre und all dem
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