Abgründe (German Edition)
lenkte den Wagen in eine der Parklücken vor dem St. Francis Home in Richmond. Das St. Francis war ein rotes Backsteingebäude mit ausladendem Dach und einem kleinen Garten auf der Rückseite. Es lag in einem vergleichsweise ruhigen Außenbezirk und in der Nähe eines Parks, den sein Vater allerdings, soweit Ethan wusste, nicht nutzte.
Er betrat das Gebäude und begrüßte kurz die Rothaarige an der Rezeption. Vor ein paar Jahren hatte er sie mal zum Essen ausgeführt, aber ihre mütterliche Art hatte ihn zu sehr irritiert, um mit ihr ins Bett zu gehen. Heute deprimierte ihn ihr Anblick, vielleicht weil ihn Altenheime generell deprimierten. Hier zu sein war wie ein Blick in die Zukunft. Irgendwann endete doch jeder in einem Schaukelstuhl, mit einer Zeitschrift auf dem Schoß, deren Inhalt er nicht mehr kapieren konnte.
Er nahm die Treppe in den ersten Stock und versuchte, flach zu atmen, damit ihn der Geruch nicht mit voller Wucht traf. Desinfektionsmittel, Essen und Diabetes. Eine Mischung, die wahrscheinlich in jedem Krankenhaus und in jedem Seniorenheim auf der ganzen Welt gleich roch und einen immer dazu trieb, möglichst schnell wieder zu verschwinden.
Sein Vater bewohnte das Einzelzimmer mit der Nummer Zweiundzwanzig. Das Bad musste er sich mit dem Bewohner aus Zimmer Einundzwanzig teilen, aber Ethan bezweifelte, dass dieser Umstand ihn noch störte.
Er klopfte kurz und öffnete dann die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten. Das Zimmer war groß genug für eine einzelne Person und vergleichsweise wohnlich eingerichtet. Das Bett mit dem unvermeidbaren Metallgestell stand in der linken Ecke, daneben ein Nachttisch. Mithilfe eines Vorhanges konnte man den Schlafbereich vom Rest des Zimmers trennen. Außer dem Bett gab es einen kleinen Essplatz direkt am Fenster und rechts davon zwei Sessel, einen Tisch und einen Fernsehschrank mit dem entsprechenden Gerät darin.
Ethans Vater Matthew saß vor dem Fernseher auf einem der Sessel, patriarchalisch, die Arme auf den Armlehnen und die Fernbedienung in der Hand. Er drehte den Kopf zur Tür und Ethan erkannte sich selbst in ihm: Das scharf gezeichnete Gesicht, die hohen Wangenknochen, die zerfurchte Stirn. Ethan hatte generell viel von ihm geerbt, doch vor allem das autoritäre Äußere, was ihm zumindest beruflich schon oft weiter geholfen hatte.
»Joseph«, begrüßte ihn sein Vater und Ethan spürte eine leichten Anflug von Zorn, der sich als heißes Gefühl in seinem Gesicht äußerte.
»Alle Welt nennt mich Ethan .« Er ließ die Tür hinter sich zufallen und trat ins Zimmer.
» Ich nenne dich Joseph .«
Sein Vater war früher Religionslehrer gewesen und hatte immer streng nach christlichen Traditionen gelebt. Ethan war froh, dass er nicht Jesus hieß, aber auch Joseph ließ ihn immer gleich zurückdenken an die unterkühlte Atmosphäre, die seine Kindheit und Jugend beherrscht hatte. An die Sonntage in der Kirche und die Liste mit Teufelswerk , die sein Vater an den Kühlschrank gepinnt hatte. Das obligatorische Tischgebet unter seinen strengen Augen.
Ethan ließ sich schwer in den freien Sessel fallen. Matthew sah einen alten Film, in dem gerade eine hochgeschlossene Blondine auf einen Mann mit Hut einredete. Sein Vater stellte den Ton ab.
»Und? Wie geht’s?«, versuchte es Ethan.
»Wie soll es mir schon gehen? Die Stadt, die mein Großvater mit aufgebaut hat, versinkt in Gewalt!«
»Vater. Die Stadt, die dein Großvater mit aufgebaut hat, ist Detroit. Du bist in Virginia .«
Matthew überging seine Berichtigung, indem er den Kopf wieder zum Fernseher drehte. Ethan bemühte sich, sich von der Demenz des alten Herrn nicht zur Weißglut treiben zu lassen, er konnte schließlich nichts dafür.
»Dann sollte die Polizei von Virginia vielleicht härter durchgreifen. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden! Genesis neun, fünf-«
»Bis sechs, Vater, ich weiß.« Er ballte die Hände zu Fäusten, um seinen Zorn zu kontrollieren. Wenn sein Vater sich auch nichts merken konnte, Bibelzitate brachte er immer im passenden Moment. Ethan sehnte sich nach Small Talk, nach einem normalen Gespräch zwischen Vater und Sohn. Einfache Fragen nach Ethans Befinden, nach Haley, nach den Spielergebnissen der Lions. Aber für Ethans Vater war es nie wichtig gewesen, wie es Ethan ging, Haley war seiner Meinung nach ein Bastard und Football Teufelszeug .
Mit diesem ganzen religiösen Kram war Ethan bis zu seinem Auszug von zu Hause
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