Abgründe (German Edition)
jedem Streit heraus gehalten. Zu Hause bei seinen Puppen, da hatte er sich wohl gefühlt, sonst nirgends.
»Birch!« Der Tonfall des Fremden war plötzlich umgeschwungen und klang wütend. »Komm raus, oder ich reiße der kleinen Rothaarigen den Kopf ab!«
»Nein...«, flüsterte Birch. Er wusste genau, wen der Mann meinte. An der Tür des Ladens saß eine wundervolle Puppe. Sie war fest sechzig Zentimeter hoch und hatte langes, lockiges, rotes Seidenhaar. Ihre Wangen waren rosa, genau wie ihre Lippen. Gleich als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er ihr versprochen, sie zu adoptieren. Jetzt wollte dieser kranke Perverse ihr etwas antun.
»Birchy... Die Kleine schreit nach dir... Hörst du, wie sie schreit?«
Birch kniff die Augen zusammen und redete sich ein, dass es nur um eine Puppe ging. Eine Puppe, mehr nicht. Trotzdem tat ihm der Gedanke, dass ihr jemand etwas tun könnte, in der Seele weh.
»Ich werde ihr jetzt ganz langsam die großen Kulleraugen ausstechen. Willst du daran schuld sein? Komm raus… Ich möchte nur mit dir sprechen…«
Es hörte sich an, als würde der Fremde sich immer noch in der Nähe der Tür befinden. Birch wagte es nicht, nachzusehen. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann erklang die Stimme dichter an seinem Ohr als zuvor.
»Autsch.« Ein leises Knack , dann rollte ein rundes Puppenauge in Birchs Versteck.
Er sog erschrocken die Luft ein und starrte das Auge so entsetzt an, als wäre es sein eigenes.
»Daran bist du Schuld, Birch. Komm raus und ich bringe dich kurz und schmerzlos um«, versprach der Mann. Er klang jetzt wieder fröhlich.
Birch schluckte und starrte den Puppenkinderwagen vor sich an. Er brauchte dringend einen Plan.
»Weißt du, warum ich dich töten will? Nein? ...Na, ich erklär's dir, es ist eigentlich ganz einfach. Jeder Idiot könnte von selbst darauf kommen, aber gut, für dich will ich eine Ausnahme machen. Du befindest dich ja schließlich auch in einer Ausnahme situation . Ich habe mir viel Mühe gegeben, meine Opfer sorgfältig ausgewählt, mich lange mit ihnen beschäftigt und mich angestrengt, sie angemessen zu hinterlassen. Doch gibt es da eine Polizeieinheit, die meine Werke nicht zu schätzen weiß und neuerdings dir triebgesteuertem, infantilem Grobmotoriker die ganze Aufmerksamkeit zukommen lässt. Verstehst du jetzt, warum ich dich töten muss?«
Ein Schluchzen kam über Birchs Lippen und er konnte nicht vermeiden, dass Tränen in das weiche Reborn-Puppenhaar tropften.
Der Fremde lachte leise. »Ich sehe, du verstehst es. Wir haben Zeit, Willi. Wir wissen beide, dass ich weiß, wo du steckst. Du quälst dich nur selber, wenn du dort sitzen bleibst. Dich selbst und die kleine Rothaarige...«
Mit diesen Worten ließ er ein zweites, braunes Puppenauge in Birchs Versteck kullern.
-67-
Auch wenn heute Sonntag war, hatte Ethan um acht einen Anruf vom Captain erhalten, der ihn postwendend in sein Büro zitierte. Er konnte sich denken, worum es ging, doch er hatte auf der gesamten Fahrt versucht, sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Besser, er ging nicht allzu nervös in dieses Gespräch.
Er betrat das holzvertäfelte Büro seines Vorgesetzten, der Zigarre rauchend am Schreibtisch saß. Der Tisch des Captains war stets aufgeräumt und leer bis auf ein silbernes Namensschild, ein Familienfoto und ein zugeklapptes Notebook.
»Gut dass Sie so schnell kommen konnten, Hayes. Bitte, setzen Sie sich.«
Ethan ließ sich schwer in den dick gepolsterten Drehstuhl fallen und hoffte immer noch, dass es um seinen Ausraster gestern Abend ging. Jeder Cop verlor mal die Nerven. Immerhin hatte er keine Frau und keinen Afroamerikaner misshandelt. Und es war keine Presse zugegen gewesen. Pluspunkte, wie er fand.
Cooper betrachtete ihn nachdenklich, dann ließ er den Blick zu dem Foto wandern, welches seine Frau und seine zwei erwachsenen Töchter zeigte. »Wenn ich mir vorstelle, einer von ihnen würde etwas zustoßen…«
Ethan mochte keine Andeutungen. Er wünschte sich manchmal, die Menschen würden auf Andeutungen verzichten und einfach gerade heraus sagen was sie dachten, wollten oder nicht wollten. »Sie wollen, dass ich den Fall abgebe.«
Cooper blickte auf und nahm einen Zug von seiner Zigarre, bevor er antwortete. Tabakgeruch mit einer kaum wahrnehmbaren Vanillenote erfüllte den Raum. »Das letzte Opfer stand Ihnen ziemlich nah. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie nicht befangen sind.«
Energisch schüttelte Ethan den
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