Abgründe (German Edition)
voll gestopft worden. Morgens, mittags, abends, genau wie seine Mutter, die sich dem tyrannischen Matthew und seinen fundamentalistischen Lebensregeln nie hatte widersetzen können. Sie war seit mehr als zehn Jahren tot und Ethan hatte sich damals, so schlecht er sich dabei vorgekommen war, gewünscht, es hätte Matthew an ihrer Stelle erwischt.
»Wenn du das weißt, dann sorg endlich dafür, dass es auch eintritt. Du willst schließlich irgendwann noch Detective werden.«
»Ich bin längst Detective, Vater.«
Wieder ignorierte Matthew die Korrektur. Seiner Meinung nach war Ethan immer noch Streifenpolizist in Michigan und Ethan wünschte sich bei jedem Besuch aufs Neue, er hätte seinen Vater dort in einem Heim untergebracht. Dann hätte er wenigstens einen Vorwand, ihn noch seltener besuchen zu können.
Ein paar Minuten lang herrschte unangenehme Stille, dann stellte Matthew den Fernseher wieder lauter. Das war seit jeher ein Zeichen dafür, dass sein Vater nicht reden wollte. Ethan stand also auf und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich vor den Kopf gestoßen fühlte.
»Ich geh’ dann jetzt.«
Matthew hatte wahrscheinlich sowieso kein Gefühl mehr dafür, wie lange Ethans Besuch gedauert hatte. Als keine Antwort kam, wandte er sich ruckartig ab und ging zur Tür.
»Ach, Joseph?«
»Ethan.« Er drehte sich noch mal um.
»Wenn du am Sonntag in die Kirche gehst, bestell Father Evans einen schönen Gruß von mir.«
»Wird gemacht.« Damit verließ Ethan das Zimmer. Er schloss die Tür in dem Bewusstsein, dass sein Vater nicht wusste, was damals im Internat vorgefallen war. Er mochte es irgendwann geahnt haben, doch mittlerweile hatte er es mit großer Sicherheit vergessen. Father Evans war für Matthew immer ein Vorbild gewesen, ein Muster an Tugendhaftigkeit und Gottestreue.
Evans war vor sechzehn Jahren bei einer Schießerei in Detroit ums Leben gekommen – ein Junkie hatte den Opferstock aus seiner Kirche stehlen wollen. Es hatte Evans den ganzen Hinterkopf weggerissen, Ethan hatte es am Tatort mit eigenen Augen gesehen. Demenz konnte ein Segen sein.
-69-
Evangeline liebte Tage wie diesen. Der Himmel war wolkenlos, aber ein kräftiger Wind wehte und wühlte den Atlantik auf. Schon heute Morgen was sie zum Strand gefahren, um das perfekte Wetter zu nutzen. Ihr Mittagessen nahm sie an einer der Strandbars zu sich, während sie die Menschen beobachtete, die sich hier von den Strapazen der Woche erholten. Sie selbst war bisher immer allein hier gewesen. Es hatte ihr nichts ausgemacht, denn bislang hatte sie niemanden gehabt, mit dem sie diese ungestörten Stunden am Strand teilen wollte. Bislang.
Wie auf ein Zeichen klingelte in dem Moment ihr Handy und auf dem Display sah sie, dass es Ethan war. Gespannt, wie er sich nach gestern Abend verhalten würde, klappte sie das Telefon auf und meldete sich.
»Hi, hier ist Ethan.« Zumindest in seiner Stimme schwang wieder die gewohnte Selbstsicherheit mit.
Sie musste grinsen. »Guten Tag, Detective.«
»Beurlaubter Detective trifft es leider eher.«
»Beurlaubt?«
»Ich erkläre es dir später. Hast du nachher vielleicht Zeit? Ich würde mir gern mal dein Haus ansehen.«
»Wie bitte?«
Er räusperte sich, dann erklärte er, dass er nur sichergehen wolle, dass niemand bei ihr einbrechen und ihr etwas antun konnte. Beim Gedanken an den Serienmörder überzog eine Gänsehaut Evangelines Arme, aber ihre Stimme blieb ruhig.
»Hol mich in einer Stunde am Strand ab. Gegenüber vom Sheraton.« Sie legte auf und rührte mit dem Strohhalm in ihrer Coke.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, sich mindestens für die nächsten fünf Jahre nicht mehr zu verlieben und jetzt fand sie ausgerechnet Gefallen an diesem braungebrannten, muskelbepackten Vorzeige-Cop. Sie leerte ihr Glas und erwiderte flüchtig das Lächeln des dunkel gelockten Barkeepers. Sie hatte die diffuse Angst, geradewegs in die nächste Beziehungskatastrophe zu steuern. Nachdem sie ihre beste Freundin mit ihrem Freund im Bett erwischt hatte, fiel es ihr schwer, zu jemandem Vertrauen zu fassen. Blieb nur zu hoffen, dass sie überängstlich war.
-70-
Ames spürte die wohlbekannte Vorfreude in sich, während er seinen Wagen über den Highway lenkte und über sein neuestes Werk fantasierte. Der Mord an Wilbur Birch hatte ihn nicht befriedigt. Nicht so, wie er es gewohnt war. Er tötete nicht gern Männer. Sie gefielen ihm nicht und er wollte am Ende des Tages etwas vollendet
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