Abgründig (German Edition)
Tim nicht sehr glücklich war. Er hatte gehofft, sich bald wieder zu Lena setzen zu können, aber so wie es aussah, würde das zumindest fürs Erste nichts werden.
Fabian schüttelte energisch den Kopf. »Nein, es ist logisch. Dort drinnen ist es schmutzig und es stinkt sowieso schon. Die Kiste, in der die Decken lagen, ist leer. Die können wir als Toilette benutzen.«
»Jenny hat recht«, meinte Janik und sah Fabian, mit dem er sich eine Decke teilte, angewidert an. »Ich finde das auch ekelhaft. Vor allem, weil die Tür sich nicht schließen lässt. Da draußen ist es ungemütlich, aber wenn man sich direkt vor der Hütte aufhält, funktioniert das.«
»Nun geh schon, wenn’s so dringend ist«, sagte Sebastian zu Julia, die offenbar auch nicht von Fabians Idee überzeugt war.
»Ja, ist es auch. Aber eine Kiste … Das kann ich nicht. Ich versuch’s draußen.« Sie schlug die Decke zurück, stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gott, ist das kalt.«
Tim dachte an Lucas und sagte: »Pass auf, wenn du die Tür öffnest.« Julia schaffte es, die Tür vorsichtig zu öffnen und hinauszuschlüpfen. Sofort heulte der Wind in die Hütte und blies zwei Kerzen aus. Und doch hatte Tim das Gefühl, dass der Sturm sich etwas beruhigt hatte. Aber vielleicht wünschte er sich das auch nur.
Es dauerte etwa drei, vier Minuten, bis Julia zurückkam. Ihre Haare, die zwischenzeitlich etwas angetrocknet gewesen waren, klebten ihr wieder in Strähnen am Kopf.
»Ich glaube, es ist ein bisschen besser geworden«, erklärte sie und warf Fabian einen trotzigen Blick zu, während sie zurück zu ihrem Platz neben Sebastian ging. »Nicht einfach, aber es geht. Jedenfalls brauchen wir keine … Kiste.«
Sie setzte sich zu Sebastian unter die Decke und begann, sich flüsternd mit ihm zu unterhalten.
»Schätze, ich habe dicken Ärger an der Backe«, sagte Denis leise zu Tim. Es kam so unerwartet, dass Tim zusammenzuckte und überrascht zu ihm hinübersah. Er konnte ihn nur schemenhaft erkennen, weil die beiden Kerzen in diesem Bereich vom Wind ausgeblasen worden waren. Ihre Ecke wurde nur von den schummrigen Ausläufern des restlichen Lichts spärlich beleuchtet.
»Was?«
»Ärger. Weißt du, was das ist?«
Wieder einmal wusste Tim nicht so recht, was Denis eigentlich wollte und wie er reagieren sollte.
»Natürlich weiß ich, was Ärger ist.«
Eine Weile sah Denis ihn abwägend an, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, weißt du nicht.«
Tim stellte fest, dass Denis die Gabe besaß, jemanden mit ein paar hingeworfenen Worten auf die Palme zu bringen. »Was willst du eigentlich, verdammt? Frag mich doch nicht, wenn du meine Antwort nicht hören willst.«
»Die vom Camp werden das hier dem Psychofritzen melden. Der stellt fest, dass ich mich nicht gebessert habe und sowieso die Idee für diesen Blödsinn nur von mir stammen kann. Dem Freak. Das war’s dann.«
»Das war’s?«
»Ja, bis ich achtzehn bin, mach ich keinen Fuß mehr aus dem Heim. Vergünstigungen gestrichen. Kein Ausgang, keine Videospiele, kein gar nichts. So läuft das, wenn man Ärger bekommt, Alter.«
Tim dachte eine Weile darüber nach. »Aber warum bist du dann überhaupt mitgegangen? Selbst wenn dieser Sturm nicht gewesen wäre, war doch klar, dass die im Camp von unserem Ausflug nicht begeistert sein werden. Du hättest also wahrscheinlich so oder so Ärger bekommen.«
»Ja.«
Tim wartete, ob eine weitere Erklärung folgen würde, doch Denis hatte wohl beschlossen, genug gesagt zu haben. Er legte die Unterarme auf die angezogenen Knie und ließ den Kopf mit geschlossenen Augen nach hinten gegen die Wand sinken. Tim tat es ihm gleich und spürte, wie schon nach wenigen Minuten die Müdigkeit ihn übermannte. Die Anstrengungen des Vormittags hatten ihre Spuren hinterlassen. Aber mit dem Gefühl der Müdigkeit kam auch gleichzeitig wieder die Angst davor, einzuschlafen. Seit Jahren schon quälte ihn diese Angst jeden Abend …
Tim ist sechs Jahre alt, als seine Mutter ihn zum ersten Mal nachts vom geöffneten Fenster im Flur wegzieht. Er hat nur dagestanden und in die Dunkelheit gestarrt, erzählt sie ihm, nachdem er verwirrt aufgewacht ist und nicht weiß, wie er zu dem Fenster gekommen ist.
Er muss aufgestanden und quer durch sein Zimmer in den Flur getappt sein. Schlafend. Dann hat er das Fenster geöffnet und mit offenen Augen nach draußen gestarrt. Noch immer schlafend.
Seine Mutter geht mit ihm zum Arzt, der sie aber
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