Abgründig (German Edition)
beruhigt. Jedes zweite Kind sei schon mal geschlafwandelt, erklärt er. Kein Grund, sich Sorgen zu machen.
Auch später, als Tim nachts immer wieder verstört irgendwo im Haus aufschreckt und in das sorgenvolle Gesicht seiner Mutter blickt, ist der Arzt noch der Meinung, es sei mit ihm alles in Ordnung. Und Tim glaubt ihm. Bis zu jener Nacht im August.
Tim ist mittlerweile zwölf und die Zahl seiner nächtlichen Ausflüge ist stark zurückgegangen. Nur noch selten kommt es vor, dass er im Wohnzimmer oder in der Küche aufwacht. Fast immer steht er dabei vor einem Fenster. Manchmal öffnet er es, ein anderes Mal starrt er durch die Glasscheibe nach draußen.
In dieser Nacht ist alles anders. Er erwacht in einem unbeschreiblichen Chaos. Schreie dringen an seine Ohren, er sieht Dinge, die er nicht einordnen kann, aus einer Perspektive, die er nicht versteht. Alles erscheint ihm durcheinander, unwirklich. Und immer wieder hört er dieses Geschrei. Ein Gesicht taucht vor ihm auf, die Augen darin sind weit aufgerissen, der geöffnete Mund gleicht einer schrecklichen, dunklen Höhle. Die Schreie kommen aus diesem Mund. Er erkennt seine Mutter. Aber warum schreit sie so?
Er scheint auf dem Boden zu liegen, schräg über ihm ist … eine Tischplatte? Neben seinem Kopf sieht er ein dazugehörendes Tischbein. Er liegt neben dem Küchentisch auf dem Boden. Da ist etwas Warmes, an seiner Seite, am Bein. Es … klebt. Er tastet danach, und plötzlich fährt ein Feuerstrahl durch seine Hüfte.
Tim hat Angst, er versteht nicht, was passiert ist. Er möchte aufstehen, aber er findet keinen Halt, er rutscht aus und sieht die Blutlache neben sich auf dem Boden. Wie kann das sein? Wie ist er …
Der Tisch dreht sich, Tim fällt rasend schnell in ein endloses Loch, alles um ihn herum explodiert in einem roten Rausch, dann wird es dunkel.
Er erwacht in einem weiß bezogenen Bett. Seine Mutter sitzt daneben auf einem Stuhl, schräg dahinter sein Vater. Beide lächeln ihn an, aber Tim spürt, dass es kein glückliches Lächeln ist.
»Hallo, mein Schatz«, sagt seine Mutter. Sie trägt einen Verband am rechten Unterarm. Tim schaut sich um und versteht, dass er in einem Krankenhausbett liegt. Seine Hüfte schmerzt.
»Was ist passiert?«, fragt er seine Mutter. Sie fängt an zu weinen. So sehr, dass sie nicht erzählen kann. Sein Vater übernimmt es für sie.
Er ist wieder einmal im Schlaf aufgestanden und nach unten gegangen. In der Küche hat er sich dann wohl ein Fleischermesser gegriffen, das auf der Spüle lag.
Tims Mutter hat ein Poltern aus der Küche gehört. Sie ist nach unten gegangen und hat Tim da stehen sehen mit dem Messer in der Hand. Sie ist entsetzt zu ihm gerannt, doch als sie ihn erreicht, schwingt seine Hand mit dem Messer herum und er schneidet seine Mutter in den Unterarm.
Sekunden später hat Tim sich das Messer selbst in die Hüfte gerammt.
»Es ist nicht schlimm«, sagt seine Mutter mit glänzenden Spuren auf den Wangen, als Tim sorgenvoll ihren Arm betrachtet. »Die Hauptsache ist, dass dir nicht mehr passiert ist.«
Aber es ist schlimm. Er hat im Schlaf seine Mutter und dann sich selbst verletzt. Er hat keine Kontrolle darüber gehabt, kann sich nicht einmal daran erinnern.
Sie gehen zu Psychologen, Psychiatern. Sie stellen alle möglichen Dinge mit ihm an, hypnotisieren ihn, stellen eine Million Fragen, und alle sagen, es kommt wahrscheinlich nicht wieder vor. Wahrscheinlich. Es kommt auch nicht wieder vor. Kein einziges Mal mehr. Nicht so. Ganz selten noch steht er vor dem Fenster, aber auch das hört irgendwann auf. Und doch – von diesem Tag an hat Tim Angst vor dem Einschlafen. Er weiß jetzt, sein Schlaf kann gefährlich sein.
15
Tim musste schließlich doch eingeschlafen sein, denn er war vollkommen benommen, als er erschrocken den Kopf hob.
Die Szene um ihn herum hatte sich verändert. Die anderen hatten umgeräumt und waren dichter zusammengerückt. Sie saßen nun in einem engeren Kreis auf dem Boden. In ihrer Mitte lagen einige Brotreste, ein wenig Obst, Margarine- und Marmeladendöschen, dazu ein kleiner Rest Aufschnitt in einem Meer aus Krümeln. Dazwischen standen einige leere Cola- und Orangensaftflaschen und mehrere brennende Kerzen.
Alle schienen durcheinanderzureden, während draußen der Sturm noch immer wütend um die Hütte fegte. Tim fragte sich, wie in dieser Geräuschkulisse überhaupt jemand etwas verstehen konnte. Er schlug die Decke zurück und zog sie sofort wieder
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