Abgründig (German Edition)
Wir mussten dich von ihm wegzerren, damit du aufhörst, schon vergessen? Vielleicht warst du deswegen noch immer wütend, und als Ralf irgendwann rausgegangen ist, bist du ihm gefolgt und hast ihn draußen zusammengeschlagen? Ich bin vielleicht dazugekommen und habe ihm geholfen. Oder Ralf war schon gar nicht mehr da, und ich habe nur etwas angefasst, an dem sein Blut war. Wie hört sich das an?«
»Blödsinnig hört sich das an!«, schrie Sebastian zurück und sprang auf. Hektisch atmend ballte er die Fäuste und stierte Tim an, als wollte er sich auf ihn stürzen. Tim begriff instinktiv, dass Sebastians Verhalten gerade gegen ihn sprach. Das musste er ausnutzen.
»Und jetzt möchtest du auch mich zusammenschlagen, weil du wütend auf mich bist, stimmt’s? So wütend, wie du in der letzten Nacht auf Ralf warst. Da sieht man’s, du hast dich kaum unter Kontrolle. Und um von dir abzulenken, beschuldigst du mich. Ist es nicht so?«
Zwei Arme schoben sich zwischen Tim und Sebastian und drückten sie auseinander. Sie gehörten Lena.
»Hört jetzt auf, euch anzuschreien, damit kommen wir auch nicht wei…« Sie brach abrupt ab und starrte Tim an. Der Ausdruck in ihrem Gesicht glich dem von vorhin, als sie das Blut an ihm entdeckt hatte.
»Was? Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Tim nervös. Er spürte, dass er ziemlich fertig war und wirklich keine seltsamen, unkommentierten Blicke mehr ertragen konnte. »Lena, bitte, schau mich nicht so komisch an. Sag einfach, was los ist.«
»Dein Gesicht … das Blut. Es … ist weg.«
Tim musste nicht lange überlegen. »Na, das ist doch kein Wunder, da draußen regnet es wie verrückt. Mein Gesicht war nach zehn Sekunden komplett nass.«
Lena nickte, langsam, wie in Zeitlupe. »Ja, eben. Es regnet die ganze Nacht schon so, ununterbrochen. Die Blutflecken können nicht von da draußen stammen, sonst wären sie schon vorher durch den Regen abgewaschen worden.«
Nun endlich verstand Tim und er hätte Lena am liebsten umarmt. Sie hatte recht. Der Wolkenbruch hätte sämtliche Spuren auf der Stelle von ihm gespült.
»Also ist das Blut mein eigenes, das ist der Beweis! Ich war damit nicht draußen. Es war ja auch nicht viel. Ein bisschen Nasenbluten reicht doch schon aus.« Er drehte sich zu Sebastian, der seinen Blick nachdenklich erwiderte.
Auch Julia beäugte ihn eindringlich. In ihren Augen lag noch immer eine Angst, deren Grund Tim gern gekannt hätte. Es war, als versteckte sie sich hinter Sebastian vor Tim.
Tim hätte etwas dafür gegeben, hinter Sebastians Stirn blicken zu können. Nach einer Weile öffneten sich Sebastians Fäuste. Sein ganzer Körper lockerte sich und Tim spürte förmlich, dass er gerade einen sehr wichtigen Sieg errungen hatte.
»Das klingt einigermaßen plausibel«, sagte Sebastian schließlich, und seine Stimme klang schon um einiges entspannter. »Es klärt zwar immer noch nicht, warum deine Klamotten heute Morgen so nass waren, aber gut … Vielleicht warst du pinkeln und das mit dem Blut ist anschließend passiert. Aber dass ich etwas damit zu tun habe, ist Oberquatsch.«
Keiner der anderen sagte ein Wort. Tim nickte langsam. Er fühlte sich, als sei eine zentnerschwere Last nicht nur von seinen Schultern, sondern auch von seinem Verstand genommen worden. Sein Blick fiel auf Jenny, und zum zweiten Mal fiel ihm ihr Gesichtsausdruck auf, der irgendwie seltsam war. Er nahm sich vor, sie darauf anzusprechen, doch zunächst wandte er sich an alle.
»Also, ihr seht, jeder von uns könnte theoretisch etwas mit Ralfs Verschwinden zu tun haben, wenn man sich eine passende Geschichte dazu ausdenkt.«
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er fror, und er wünschte sich sehnlichst, die nasse Kleidung ausziehen zu können.
»Vielleicht ist der Freak einfach abgehauen, ihr Schlauberger.« Denis hatte sich aus seiner Ecke erhoben. Eingehüllt in seine Decke lief er an Sebastian und Tim vorbei zu einem der Hocker und setzte sich. Auch er war heute Morgen kein schöner Anblick. Die sowieso sehr blasse Gesichtshaut wirkte durch die dunklen Ringe unter seinen Augen wie die einer Leiche. Die schwarzen Haare standen ihm noch wilder vom Kopf ab als am Vortag und seine schmalen Lippen waren bläulich verfärbt.
»Abgehauen?«, fragte Lena nach. »Was meinst du damit? Wie soll er abgehauen sein bei dem Wetter? Und warum ohne Rucksack?«
Denis versuchte ein Grinsen, was aber zur Grimasse wurde. »Weil’s allein einfacher ist, vorwärtszukommen,
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